„Stop! Stoooooop!!!“ – Bremsen quietschen, das Auto hinter uns fährt bedrohlich dicht auf, dann kommt es ebenso abrupt zum Stehen wie unser Kleinbus. Türen werden behutsam geöffnet, 14 Männer und Frauen steigen vorsichtig aus und nehmen, von den Fahrzeugen gedeckt, Aufstellung. Feldstecher werden an die Augen gehoben, Stative eilig aufgebaut, schwere Beobachtungstechnik kommt zum Einsatz. Alle schauen gebannt in eine Richtung.

/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Die meisten Vogelbesessenen kommen aus Deutschland, Holland und Großbritannien, um Mohrenlerche und Co. zu sehen.’/

In 30 Meter Entfernung sehe ich einen schwarzen Vogel, amselgroß, neben einer Steppenstaude hocken – und weiß: Es ist soweit. Die Mohrenlerche hat uns.

Eigentlich kann jetzt nichts mehr passieren. Die Spannung der letzten Stunden weicht einer sichtbaren Glücksseligkeit. Der lange Flug, das Warten an der Passkontrolle, die Diskussionen mit den Zöllnern, ob man für die zeitweilige Einfuhr der Spektive und Kameras bezahlen muss oder nicht – alles nicht mehr wichtig. Wegen dieses typischen und nur hier vorkommenden Vogels haben sie diese ganzen Strapazen gern auf sich genommen, wegen der Mohrenlerche. Aber auch wegen der Steppenweihe, der Brachschwalbe, des Steppenkiebitzes, der Barrabasmöwe, der Weißkopfruderente und wegen der Lasurmeise. Das ist nur ein Bruchteil der über 300 Vogelarten, die das Gebiet Tengis und der Korgalschin-Seen von Mai bis September als Brut- und Zugvögel bevölkern.

Mikrokredit finanziert WC

Das größte zusammenhängende Feuchtgebiet in der eurasischen Steppe wurde 2008 endlich als UNESCO-Weltnaturerbe nominiert; vorausgegangen waren über zehn Jahre Arbeit vieler Fachleute und Organisationen auf nationaler und internationaler Ebene. Der deutsche NABU hat dabei eine zentrale Rolle gespielt. Aus Deutschland, Holland und Großbritannien kommen auch die meisten Besucher hierher. Ornithologen, Birdwatcher und Birder, drei Gruppen von Vogelliebhabern, die sich fast kastenmäßig voneinander separieren. Die meisten kommen im Mai, dann sieht man neben den hier brütenden Arten auch zahlreiche Durchzügler, die auf dem weiten Weg in die arktischen Gebiete hier Rast machen und sich vor dem Weiterflug eine Stärkung gönnen. Salz- und Süßwasserseen, Brackwasser und Schilfdickichte, Kurzgrassteppe und Flußauen haben für jeden Vogelmagen etwas zu bieten.

Apropos: Der Hunger meldet sich auch bei den Vogelbeobachtern. Vor sechs Stunden gab es Frühstück im Flugzeug, jetzt ist es schon fast Mittag, und das hier wird nicht die letzte Mohrenlerche sein. Wir steigen wieder ein und fahren weiter nach Korgalschin. Unsere Gastgeber werden schon mit dem Essen warten. Der Verwaltungsort des Schutzgebietes Tengis und Korgalschiner Seen liegt gut 180 Kilometer südwestlich von Astana in der flachen Steppe. Für normale Reisende sind das zweieinhalb Autostunden. Nicht für uns. Hier und da sorgen Rotfußfalken, Adlerbussarde und Kampfläufer für weitere Zwischenhalte. Als wir ankommen, wärmt Nadja schon zum zweiten Mal die Suppe auf. Der Tisch ist seit Stunden gedeckt, alles ist sorgsam mit Tüchern verhüllt, die Fliegen haben keine Chance. Jura hilft den müden Vogelfreunden, die Koffer ins Haus zu schleppen, Kameras und Spektive werden behutsam abgestellt. Die Hälfte der Gruppe fährt weiter und wird im Haus von Timur und Kensche untergebracht. Nach dem Mittagessen wollen wir uns alle hier treffen und zu einer ersten Erkundungsfahrt am Ufer der Nura aufbrechen. Das Mittagessen zieht sich hin. Nadja hat alle Register ihrer Kochkunst gezogen und drei Gänge hingezaubert. Eigentlich müsste man nach so einem üppigen Mahl ein Mittagsschläfchen machen. Das denke ich still bei mir. Leider nur ich, denn zum Schlafen sind „meine Ornis“ nicht hergekommen. Es gibt eine kleine Hygienepause. Alle neun Personen, die hier die nächsten drei Tage verbringen werden, wollen sich nach dem Essen „frisch machen“. Noch vor zwei Jahren hätte diese Prozedur eine Stunde gedauert, damals gab es nur ein Plumpsklo hinten auf dem Hof und ein Waschbecken in der Küche sowie den Wasserhahn in der Sauna. Nun haben Nadja und Jura mit einem Mikrokredit zusätzlich ein WC mit Waschbecken und eine Dusche im Haus installiert, und die Gruppe ist in 20 Minuten reisefertig.

Naturschutz vertreibt Bauern

Mit zwei Autos fahren wir los, um am Ufer der Nura, die sich hier malerisch durch die Steppe windet, erste Beobachtungen anzustellen. Am Steilufer werden die Spektive aufgebaut, eine Kolonie von Uferschwalben fasziniert die Ornithologen eine Weile, und dann entdeckt jemand das rotsternige Blaukehlchen. Die Zeit bleibt stehen. Ich stelle dieweil Betrachtungen über die Nahrungskette an. Der Mensch isst die Suppe — sssss! — die Mücke frisst den Menschen. Manche Opfer nehmen das nicht wahr, sie sehen nur das Blaukehlchen. Ich nehme es wahr — sssssss! — und schlage nach den Mücken, die zu Zehntausenden am Flussufer schwirren und mich offenbar sehr mögen. Das Blaukehlchen frisst Mücken. Ich liebe das Blaukehlchen dafür, aber es ist allein, und die Mücken lachen sich eins. Autan beeindruckt sie nicht sonderlich. Meine manuelle Mückenabwehr ist auch nicht perfekt. Als wir abends in der Jurte von Marat und Bibinur sitzen und ein typisch kasachisches Abendessen aufgetischt wird, nimmt das Jucken überhand. Meine Ornis füllen nach dem Abendessen in der Jurte ihre Vogellisten aus, Marat spielt auf der Dombra, ich versuche, nicht zu kratzen und wünsche mir anderes Wetter.

Im Lande, wo das Wünschen noch hilft, erhebt sich am nächsten Tag ein frischer Steppenwind. Wir fahren von See zu See und schwelgen in Vogelerlebnissen, die Mücken sind vom Winde verweht, es riecht nach Wermut. Den Wermutregenpfeifer sehen wir nicht, dafür aber den äußerst seltenen Steppenkiebitz. Früher kam er hier zu Zehntausenden vor. Früher gab es auch noch Saiga-Antilopen, und man nimmt an, dass die Steppenkiebitze den Herden folgten, weil sie abgeweidetes Land für ihre Nistplätze bevorzugen. Die Saigas sind fast ausgerottet, der unscheinbare Steppenkiebitz brütet jetzt auf Kuhweiden. Davon gibt es allerdings nicht mehr viele, denn das Gebiet zwischen Tengis und Korgalschin wird der Natur zurückgegeben. Ackerbau ist im Schutzgebiet nicht zugelassen, und sehr langsam holt sich die Steppe zurück, was die Neulandgewinnung ihr seit den fünfziger Jahren nahm. Die natürliche Kurzgrassteppe kehrt zurück. Auch Viehweiden sind nur am Rand des Schutzgebietes zugelassen. Es ist ein großer Erfolg für die Naturschützer und die Natur, dass das unter Schutz stehende Gebiet unlängst von 284.208 auf 543.171 Hektar erweitert wurde.

Erfolg für die Nura

Für viele Einwohner von Korgalschin und den kleineren Dörfern im Gebiet steht allerdings die Frage, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollen, wenn Landwirtschaft nur eingeschränkt möglich ist. Viele sind abgewandert, nach Russland, Deutschland und in die nahe Boomstadt Astana. Korgalschin hat heute nur noch circa 40 Prozent der Einwohner von 1990. Schwerlich werden alle vom Tourismus leben können. Nicht einmal zehn Familien in Korgalschin ernähren die Besuche von Ornithologen und Naturfreunden aus dem Ausland. Einige arbeiten in von internationalen Gebern finanzierten Naturschutzprojekten. Der Verein „Rodnik“ verbindet beides. Er ist hervorgegangen aus einer Gruppe von Enthusiasten, die den Fluss Nura vor übermäßiger Nutzung im Rahmen des neuen Hauptstadtprojekts retten wollten. Sie haben es geschafft, die Nura verschwindet nicht im Trinkwasserhaushalt der neuen Hauptstadt und speist weiter die einzigartige Oase der Steppenseen. „Rodnik“ hat den Einwohnern von Korgalschin geholfen, den Tourismus als Wirtschaftsfaktor zu erkennen und nutzbar zu machen. Man steht noch am Anfang, es fehlt ein gutes Marketing und es fehlen stabile Touristenströme.

Meine Ornithologen genießen die Tage in der Steppe, und auch die warmen Abende beim Bier auf der Bank vor Juras und Nadjas Haus. Nach vier Tagen geht es weiter nach Almaty, im Siebenstromland warten andere Vogelarten. Im Wäldchen vor dem Flughafen haben wir noch einen Termin. Die Lasurmeise weiß, was von ihr erwartet wird. Sie ist pünktlich zur Stelle. Der Vogelplan in der Steppe ist erfüllt.

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Zentrale des Zentrums für Ökotourismus Ecotourism Information Ressource Center: Almaty, Scheltoksan-Str. 71 / Ecke Gogol-Str., Tel.: +7 (727) 2 78 02 89, Fax: +7 (727) 2 79 81 46, e-mail: ecotourism.kz@mail.kz, web-site: www.eco-tourism.kz
Öffnungszeiten: Mo-Fr 09.00 – 18.00 Uhr
Dagmar Schreiber unterstützt hier im Auftrag des deutschen Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM) den Aufbau von Ökotourismus-Angeboten.
Gästehäuser in Korgalschin und Sadyrbai: OO „Rodnik“, Ljudmilla Luft, Tel./Fax: +7 31637 21043, +7 701 6028751, e-mail: OOrodnik@mail.ru
Anreise aus Almaty: Mit dem Flugzeug oder mit dem Zug nach Astana, von hier mit dem Bus oder der Marschrutka vom Bahnhofsvorplatz weiter nach Korgalschin. „Rodnik“ kann auch die Abholung mit eigenen Fahrzeugen organisieren.

Von Dagmar Schreiber

13/03/09

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