Kraft meiner Berufstätigkeit plädiere ich tagein, tagaus für die realistische Einschätzung der Kompetenzen und Talente von Migranten, damit es endlich mit der Arbeitsmarktintegration klappt. Zum Mäusemelken ist das nicht enden wollende Argument, dass alles, aber auch alles an den Deutschkenntnissen hängt. Könnten die Zuwanderer nur besser Deutsch, würden sich alle Probleme wie von selbst klären. Behauptet die Öffentlichkeit, darunter Politik, Bildung und Wirtschaft. Dass das natürlich nicht stimmt, ist schwer genug zu vermitteln.

Dass vielen Migranten allein aufgrund ihres Akzents schlechte Deutschkenntnisse untergeschoben werden, ist alles mögliche: fatal, zu kurz gedacht, unsensibel, ja eigentlich unverschämt. Finde ich mit dem nötigen Abstand der Beobachtung, Reflexion und Politikberatung. Jetzt ist es mir selbst passiert. Im Alltag, im Eifer des Gefechts.
Ich wartete aufgeregt auf den Klaviertransporter, der meinen stolz erworbenen Flügel in einem russischen Kulturzentrum abholen sollte. Er kam und kam nicht, die Zeit wurde mir länger und nicht mehr auszuhalten, da man ja nicht alle Tage einen Flügel erwirbt. Schließlich kam der Anruf des Spediteurs, er sei schon da. War er aber nicht, so ein großes Auto hätte ich doch gesehen.

Es stellte sich heraus, dass er „falsch gelandet“ ist, wie er es selbst ausdrückte. Beim Abgleich der Koordinaten, wozu er sein Navigationssystem hinzuzog, fanden wir nicht heraus, warum sein Standort nicht mein Standort war. Wir verhakten uns in der Spirale, dass ich ihm immer wieder beschrieb, wo ich bin, und er mir beschrieb, wo er ist. Wie beim Quartettspielen: Postleitzahl. Stadtteil. Straße. Hausnummer. Kirche. Und wieder von vorn. Da uns das nicht weiterbrachte, suchte ich nach weiteren Anhaltspunkten, worin das Missverständnis lag.

Aha, ich entdeckte in seinen Ausführungen einen Akzent, ich tippte auf russischen Hintergrund. Und drückte den Hörer einem russischen Mitarbeiter des Kulturzentrums ans Ohr, auf dass er die Standortfrage mit dem Fahrer auf Russisch klären solle. Jetzt würde alles klar. Wurde es aber nicht. Weil es natürlich nicht an der Sprache lag. Mit etwas mehr Denkvermögen wäre mir aufgefallen, dass er zwar mit Akzent, aber sehr gut Deutsch sprach und dass das Problem nicht an ihm, sondern am Navigationssystem lag, das die Postleitzahl der Straße nicht zuordnen konnte.

Wir versuchten es über den altmodischen Weg, mit Stadtplan aus Papier, über den ich ihn durch den Hörer leitete. Mit Erfolg. Später stellte sich heraus, dass im Gespräch zwischen dem Ansprechpartner im Büro und mir – zwischen zwei Deutschen – ein kleines E hopps gegangen ist, das ich wahrscheinlich weggenuschelt habe, was den Fahrer auf große Umwege brachte.

Noch später stellte sich heraus, dass der Fahrer nicht nur im Alltagsdeutsch bestens bewandert ist, sondern sich auch einwand- und barrierefrei fachlich über Tasteninstrumente mit allen Details und Besonderheiten verständigen kann. Im Gegensatz zu mir. Ich verstand nur Bahnhof und nickte staunend, welche Begriffe man alle aus einem Flügel herauslocken kann. Hinzu kommt, dass er in all der Verwirrung freundlich und galant blieb, auch in der Anleitung seiner Kollegen, gleichzeitig Bärenkräfte und äußerste Sorgfalt und Geschicklichkeit mobilisierte und den Auftrag erst als beendet erklärte, als mein Flügel ganz genau so stand, wie ich ihn stehen haben wollte inklusive Ausrichtung der Rollen, worüber ich noch gar nicht nachgedacht hatte.

Ich war und bin zutiefst beschämt, dass ich ihn auf die Schnelle zu einem Fahrer degradiert habe, der aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse Schwierigkeiten hat, von A nach B zu kommen. Zu meinem Verständnis für die Migranten mit ihren umfassenden Fähigkeiten gesellt sich nun auch ein größeres Verständnis für Deutsche, die oft zu schnell zu kurz und zu oberflächlich denken und am Akzent hängen bleiben.

Julia Siebert

27/11/09

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