Der Ethnologe Jesko Schmoller (29) lebt seit Sommer 2006 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. In seinem siebenten Bericht beschreibt er einen Ausflug in die Berge.

Wofür man die Usbeken – und vielleicht alle ehemaligen Sowjetvölker – einfach lieben muss, das ist ihre Ausflugskultur. Meine Deutschschüler versuchten mich schon seit Wochen zu einem Wander- und Erholungstag in den Bergen zu überreden. Gut, dass ich zugestimmt habe. Allein schon das Ritual des frühzeitigen Aufstehens, immerhin fünf Uhr, ist das ungewohnte Ausbrechen aus der wöchentlichen Arbeitsroutine wert. Im Hof ist es bereits hell, ich fülle meine Lungen mit frischer Sonntagsmorgenluft und weiß mich ganz allein mit den übermütig tschirpenden Vögeln. Vom Hauptbahnhof geht es zusammen mit meinen Schülern in einem Bummelzug gen Norden, nach Hodschikent. Unsere Sitznachbarin erzählt uns, wie es während des Afghanistankrieges Taliban gelungen sei, durch das Gebirge, über kirgisisches Territorium, bis dorthin zu gelangen. Damit hat der Ort all meine Sympathie, noch bevor ich ihn gesehen hab. Man mag es kindisch nennen, aber für mich sind Geschichten um die Taliban immer voller Abenteuerspielplatz-Romantik. Am Zielort dann keine kajalumrandeten Augen unter locker gebundenen Turbanen. Noch nicht einmal eine kleine Kalaschnikow, die gemütlich am Schulterbein ihres Trägers ruht. Dafür umso mehr aufgekratzte junge Städter mit dem dringlichen Wunsch, so schnell wie möglich ihren Rastplatz auf dem Berg zu erreichen und dort jede verbleibende Minute Wochenendzeit gebührend auszunutzen.

Eine gute Stunde später, und wir haben die Bergspitze erklommen. Schade nur, dass die Leute ihren Müll hier einfach liegen lassen. Nein, Moment. Ich habe mich getäuscht. Was da in dem Weißdornbusch neben mir hängt – es muss sich einfach um einen Weißdornbusch handeln, denn erstens hat er Dornen und zweitens sind diese weiß –, was ich da also in dem Weißdornbusch sehe, ist kein Müll, sondern viele Stoffstreifen, von früheren Besuchern hier festgebunden. Was hat das zu bedeuten? Mein Schüler – der einzige Nicht-Karakalpake in meiner Gruppe übrigens; es hat den Anschein als würde mein Deutschkurs klammheimlich von Karakalpaken unterwandert – ist auch etwas ratlos. Die Leute würden so ihre Wünsche in den Wind hängen. Eine islamische Tradition sei das aber nicht.

Schließlich treibt uns der Hunger zurück ins Tal. In einer Ferienanlage, ursprünglich für die Arbeiter einer Taschkenter Fabrik, mieten wir uns einen Bungalow. Daneben gibt es die Möglichkeit zu grillen. Und das Terrassendach schützt vor dem einsetzenden Regen. Die Anlage für die Eisenbahner sei zwar schöner, erklärt mir mein Schüler, der am Taschkenter Institut für Eisenbahnbau studiert, aber ich bin zufrieden. Im Sommer muss es sich bei der Bungalowsiedlung um ein wahres Liebesnest handeln.

Zeit heimzukehren. Taschkent ruft. Der Frühlingsregen hat die Straße vom Staub reingewaschen. Wasserdampf hängt zwischen den Feldern und der niedrigen Decke aus schwarz-blauen Wolken. Nur in der Ferne da strahlen die schneebedeckten Berge in unnatürlichem Sonnenlicht. So als wollten die Engel signalisieren: „Hierher! Hierher führt der Weg nach Schambala.“ Schambala, das Paradies auf Erden, versteckt in einem Tal des Himalaja-Gebirges. Ich schließe die Augen und meine, den fernen Glanz auf meinem Gesicht zu spüren. Aber ich lasse mich nicht täuschen von den Einflüsterungen der Engel, dem Gewisper in meinen Ohren. Sie wollen nur den Wunsch nach noch mehr wecken und würden mich letztlich auf meiner visionären Suche in eine Gletscherspalte stürzen. Ich lasse die Stimmen um mich verstummen, denn ich weiß, ich bin schon da. Ich weiß, hier am Fuße der Berge, am Ende der Welt stehend, ich weiß, das hier ist Schambala.

Von Jesko Schmoller

18/05/07

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