In der S-Bahn habe ich das Telefonat von meinem Sitznachbarn mitgehört. Was einem ja heutzutage in Zeiten der ungehemmten lauten Privatgespräche per Mobiltelefon gar nicht mehr peinlich sein muss. Der Erscheinung nach ein ganz normaler Jugendlicher, wie man sich ihn vorstellt. Die Gesprächsinhalte waren allerdings gar nicht so, wie ich sie mir zwischen Jugendlichen vorgestellt habe.

Dass er lieber eine andere Lösung hätte, sagte der junge Bursche, aber wenn es nicht anders ginge, dann müsse er dem Kerl eine reinhauen. Er würde das zwar lieber vermeiden, aber es sehe so aus, als führe an einer Prügelei kein Weg vorbei.

Nun gut, bis zu dieser Stelle in Anbetracht der Umstände ein netter Typ, da er ja augenscheinlich nicht der Unruhestifter ist und sich auch einen Weg ohne Kampf wünscht. Jetzt stellte ich mir einen Zweikampf mit bloßen Fäusten vor: ein Ringen auf dem Boden, ein paar blutige Nasen, blaue Flecken, womöglich ein ausgeschlagener Zahn und eine gebrochene Rippe. Zerraufte Haare und wahrscheinlich auch eine Platzwunde.

Er müsse sich ein paar Tage auf die Begegnung vorbereiten, führte er weiter aus. Und ich stellte mir sogleich Rocky vor, wie er zu lauter Musik im Affentempo 1.000 Situps macht, im Morgengrauen und bei Regenwetter joggt, gegen einen Sandsack boxt und Seilchen springt, um sich dann durchtrainiert, gewandt und treffsicher dem Gegner zu stellen. Eine falsche Vorstellung, wie sich herausstellte.

Er müsse noch ein paar Dinge einsammeln, die er bei Freunden deponiert habe, weil er das nicht bei sich zu Hause lagern könne. Huch?! Da fehlt mir die komplette Vorstellungskraft, um was für Dinge es sich handeln könnte. Schon bei der Vorstellung von einem scharfen Messer oder einer kleinen Pistole wird mir fast übel.

Dies sind aber sicherlich Dinge, die man problemlos zu Hause in der Schreibtischschublade oder unter dem Bett deponieren und vor den Eltern oder sonst wem verstecken kann. Diese Dinge, die er meint, müssen entweder irregroß oder mordsgefährlich sein, höchstwahrscheinlich beides. Und dann sprach er ja noch von vielen Dingen.

Und warum braucht er mehrere Tage, um das alles einzusammeln??? Ich schielte nach diesen neuen Einblicken noch mal rüber, um den Jugendlichen näher zu betrachten und Anzeichen eines hundsgemeingefährlichen Revolverhelden auszumachen. Aber möglichst unauffällig, denn wer mit großen gefährlichen Geräten andere Menschen attackiert, der ist auch bei glotzenden Frauen mittleren Alters gewiss nicht zimperlich.

Vielleicht würde er auch in meinem Fall sagen: Ich hätte die Gewaltanwendung ja lieber vermieden, Herr Wachtmeister, aber es führte kein Weg daran vorbei, sie hat mich so aufdringlich und entsetzt angeglotzt. Er sah aber immer noch aus wie ein ganz normaler Jugendlicher, wie man ihn sich vorstellt und neben den man sich mit gutem Gefühl in der S-Bahn setzen kann. Zumal er, wie wir ja jetzt wissen, in der Lage wäre, mich gegen Grobiane, Unholde und Säbelzahntiger zu verteidigen.

Wenn ich nicht gerade durch Zufall an ein besonders skrupelloses und gefährliches Exemplar der heutigen Jugend geraten bin, scheinen unsere Küken bis an die Zähne bewaffnet zu sein. Dass der Waffenbesitz unter jungen Menschen verbreitet und sogar eine gewisse Selbstverständlichkeit ist, habe ich bereits aus den Medien erfahren, aber dass man es ihnen so gar nicht ansieht, finde ich doch etwas beunruhigend. Was mich jedoch gar nicht mehr loslässt, ist die Frage: Was um Himmelswillen hat er da für Waffen versteckt??

Julia Siebert

22/01/10

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