Im Jahr 1962 testeten die USA zum ersten Mal eine der schrecklichsten Waffen des Kalten Krieges: die Neutronenbombe. Sowjetische Zeitungen schrieben zu dieser Zeit an die Sowjetbürger gewandt, diese Bombe vermag es, alles Lebendige auszulöschen, alles Nichtlebendige jedoch zu verschonen. In diesen Jahren war Nikita Chruschtschow erster Mann im Kreml. Und obwohl die Gefahr eines Erstschlages durch den Feind im Westen immer in der Luft lag – nach dem entbehrungsreichen Zweiten Weltkrieg und den Jahren der Stalinschen Repressionen kehrte unter ihm wohl erstmals wieder so etwas wie Alltag, eine gewisse Leichtigkeit ins tägliche Leben ein.

Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kam es zum ideologischen Säbelrasseln zwischen Moskau und Berlin. 1937 krönte die Monumentalstatue „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ den sowjetischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung. Die beiden Figuren reckten mit stolzer Brust Hammer und Sichel dem direkt gegenüberliegenden Pavillon des Deutschen Reiches entgegen. Erschaffen hat diese monumentale Plastik die Künstlerin Wera Muchina. „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ ist seit 1947 das Symbol der sowjetischen Filmstudios Mosfilm.

Klassiker unter den sowjetischen Alltagsgegenständen

Im Sommer 1965 erschien der Film „Operation Y“ der Mosfilm-Studios, in welchem sich ein gewisser Tölpel namens Schurik über die Kinoleinwände blödelte. Nachdem er der schönen Lida begegnet war, hatte er eine Erfrischung nötig. Er trank sein Sprudelwasser aus dem sogenannten Facettenglas, vielleicht einem der bekanntesten Alltagsgegenstände der Sowjetunion. Wera Muchina entwarf nicht nur Monumentalskulpturen, sondern unter anderem auch jenes legendäre Facettenglas. Es besitzt 16 Facetten und fasst exakt 250 Milliliter. Der Preis für eines dieser Gläser betrug damals 7 Kopeken, er war am Glasrand eingepresst. In einer anderen Szene des Films weigert sich der Rowdy und Trunkenbold Fedja, einer schwangeren Frau den Sitzplatz im Bus freizumachen. Er belegt den Platz neben sich demonstrativ mit einem Netzbeutel mit leeren Trinkflaschen. Auch dieser einfache Netzbeutel – die Sowjetbürger nannten ihn „Awoska“ – ist ein absoluter Klassiker unter den sowjetischen Alltagsgegenständen.

Die Awoska gehörte in der Sowjetunion in die Jackentasche eines jeden Mannes oder in die Handtasche einer jeden Frau. Der Name bedeutet so viel wie „vielleicht“ oder „es könnte sein“ und ist Programm bei dem auf sehr kleine Größe zusammenfaltbaren Netzbeutel. Es könnte ja sein, dass man auf dem Heimweg von der Arbeit noch ein Stück Butter oder eine Konserve kaufen möchte. Insbesondere in den Zeiten des Warenmangels stellte man sich oft auch an Schlangen an, ohne zu wissen, was überhaupt verkauft wird. Da war ein kleiner Netzbeutel in der Jackentasche Gold wert.

Ein Hi-Tech-Bau für Almaty

Nicht nur hatte vermutlich auch jeder Bürger von Alma-Ata seinerzeit ebenfalls eine Awoska in der Jackentasche. Die Stadt setzte der beliebten Netztasche sogar ein grandioses Denkmal, wenn auch nicht ganz freiwillig. Zu Beginn der 1980er Jahre waren die Telefonleitungen in der Kasachischen SSR bereits überlastet. Man beschloss den Bau einer neuen, automatischen Telefonstation. Die Architektin Albina Petrowa entschied sich für ein seinerzeit herausragendes Design. Das neunstöckige Gebäude sollte von einem Metallrohrkorsett an der Außenfassade getragen werden. Diesen Architekturstil nannte man damals: Hi-Tech. Das hochmoderne Technikgebäude, welches 25.000 Telefonanschlüsse verwalten konnte, wurde 1983 eingeweiht und befindet sich seitdem auf der Panfilov-Straße, zwischen historischen Wohngebäuden der 1950er Jahre und dem stalinistischen Abai-Opernhaus.

Es ist der extravaganten Metallkonstruktion geschuldet, dass sich in der Bevölkerung alsbald der Spitzname Awoska-Haus durchsetzte. Die rautenförmigen Maschen der Awoska-Taschen finden sich tatsächlich in dem Gebäude wieder. Als es mit der Sowjetunion zu Ende ging, verschwanden allerdings sowohl der Awoska-Beutel als auch das markante Facettenglas. Einwegbecher und Plastiktüten nahmen deren Plätze ein.

Doch es ist wie bei der Neutronenbombe, die Gesellschaft der Sowjetmenschen existiert zwar nicht mehr, doch ihre Alltagsattribute haben wie Artefakte aus einer vergangenen Zeit überlebt. In den teuren Cocktailbars von Kiew bis Almaty werden Drinks heute wieder in den uralten sowjetischen Riffelgläsern ausgeschenkt. Da aber auch der Umweltschutz heute mehr denn je ein Thema ist, erfährt der Awoska-Beutel eine unerwartete Renaissance. Unter jungen Menschen, die auf Plastiktüten lieber verzichten, ist der Netzbeutel ein Trendaccessoire mit Retrochic. Das Awoska-Haus ist in der Stadt noch immer unter diesem Namen bekannt. Jetzt sitzt dort die Telefongesellschaft Kazakhtelekom und hat heute vermutlich weit mehr als 25.000 Telefonanschlüsse zu verwalten. Nur eine Sache kommt, entgegen ihrer eigenen Prophezeiung, hoffentlich nie wieder zurück: die Neutronenbombe.

Philipp Dippl

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