Dr. med. Rudolf Grundentaler ist ein erfolgreicher Handchirurg und lebt in Berlin. Er ist in Kasachstan geboren und Anfang der 90er Jahre nach Deutschland ausgewandert. Im Interview erzählt er über seine Karriere, über seine jugendlichen Eindrücke von Kasachstan und warum er sich als Deutscher mit russlanddeutschem Migrationshintergrund bezeichnet.

 

Herr Dr. Grundentaler, sie sind 1993 nach Deutschland gekommen. An welchen Moment vor oder nach Ihrer Abreise können Sie sich noch am besten erinnern, was hatten Sie für ein Gefühl?

Meine Abreise aus Kasachstan und die Anreise in Deutschland verbinde ich mit dem Gefühl eines positiven Neuanfangs, neuen Chancen, neuen Bekanntschaften und Herausforderungen. Da ich in einer Gegend mit einem sehr großen Bevölkerungsanteil der deutschen Minderheit in Kasachstan wohnte, wusste ich relativ genau, worauf ich mich einlasse. Sehr viele Bekannte, Freunde und Verwandten wohnten zu dem Zeitpunkt bereits in Deutschland und schilderten die Situation hier im Lande ziemlich genau.

Was haben Sie zum Beispiel ihren Freunden erzählt?

Meinen Freunden sagte ich: „Hey, Jungs, ich bin bald bei euch!“ Sehr viele aus meinem Bekanntenkreis siedelten Anfang der 90er Jahre aus Kasachstan aus. Deutsche wanderten nach Deutschland aus, Griechen nach Griechenland, Juden nach Israel. So waren viele meiner Freunde bereits im Ausland, und ich brannte, sie wiederzusehen und die große Welt zu entdecken.

Wie haben Sie das Leben in Kasachstan in Erinnerung?

Ich glaube und hoffe, dass jeder Mensch die eigene Kindheit in positiver Erinnerung hat. Es waren meine Freunde aus meinem Bezirk, die allerdings im späteren Verlauf fast alle ins Ausland auswanderten.
Es waren meine Schulkameraden, die auch zu einem größeren Teil zum Studieren in die ganze Welt ausflogen. Es waren meine Kumpels beim Judotraining, zu einigen von ihnen habe ich immer noch Kontakt.
Es waren die Sommerferien am Balchasch-See und Ausflüge zum Fischen am Fluss Karatal und Ili.

Sie sind in Kasachstan in die Schule gegangen und haben auch ein Medizinstudium in Astana abgelegt. Warum haben Sie in Deutschland nocheinmal ein Studium abgeschlossen?

Das stimmt so nicht. In Kasachstan habe ich mein Medizinstudium begonnen. Dort hatte ich vier Semester studiert und die vorklinischen Staatsexamina abgelegt.
Zu dem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt. Als ich dann nach Deutschland kam, wurden mir die vier Semester meines Studiums nicht anerkannt.
Deswegen habe ich mein Studium hier in Deutschland von Anfang an begonnen und hier abgeschlossen. Warum bestimmte ausländische Abschlüsse hier nicht anerkannt werden, kann ich Ihnen im Detail nicht erklären. Für mich war der Aspekt, dass ich die ersten vier Semester quasi wiederholen durfte, nicht unbedingt von Nachteil.
Ich habe die vorklinischen Prüfungen mit sehr guten Noten bestanden und habe dafür ein Begabtenstipendium erhalten.
In Deutschland nimmt man das Studium frühestens mit 19 Jahren auf. So begann ich mein Studium in Deutschland mit Altersgenossen. Da der Stoff der ersten Semester mir bereits bekannt war und die deutsche Sprache keine größeren Probleme bereitete, konnte ich mich auf fakultative Aufgaben und außercurriculare Tätigkeiten konzentrieren.

Denken Sie manchmal darüber nach, ob Sie auch in Kasachstan ein erfolgreicher plastischer und Handchirurg geworden wären?

Ich wäre in jedem Fall ein Chirurg geworden. Bereits in Kasachstan hatte ich mir Chirurgie als meinen zukünftigen Wirkungsbereich ausgesucht und arbeitete mehrere Jahre in der Gerichtsmedizin der tanatologischen Abteilung in Taldy-Kurgan und Astana. Bei Sektionen von Verstorbenen habe ich mir fundierter Anatomiekenntnisse des menschlichen Körpers bereits zum Auswanderungszeitpunkt erarbeitet. Dies half mir in Deutschland im Studium, aber auch im späteren Berufsleben natürlich weiter. Ob ich dort eine Chance bekommen hätte, ein plastischer oder Handchirurg zu werden, kann ich nicht sagen.

Was haben Ihre Eltern Ihnen über die Geschichte der Russlanddeutschen erzählt?

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist, so denke ich, jedem Russlanddeutschen bekannt und allgegenwärtig. Angefangen von Auswanderung, Neubeginn und Aufbau über Deportation, Vertreibung, Teilvernichtung in der Arbeitsarmee bis zur Auswanderung in die historische Heimat. All das ist in allgemeinen Zügen jedem Russlanddeutschen, aber auch anderen mehr oder weniger gebildeten Menschen bekannt. Das Pech und Unheil der Generation meiner Großeltern wurde durch die geschichtlichen Umwälzungen zu einem Vorteil für meine Generation. So konnten wir aufgrund der deutschen Volkszugehörigkeit die zusammenbrechende Sowjetunion verlassen und uns eine neue Existenz, gar ein komplett anderes Leben in Deutschland aufbauen.
Andere, persönlichere Aspekte der eigenen Geschichte sind vielen Familien aus dem kollektiven Gedächtnisses jedoch nicht mehr präsent. So hat mich neulich ein Verwandter angerufen, der mir über unser Familienwappen, unseren Herkunftsort und weitere interessante Aspekte unserer Genealogie erzählte.

Pflegen Sie noch Kontakt zu Bekannten und Verwandten in Kasachstan, welches Bild vermitteln sie Ihnen von Kasachstan? Welche Vorstellung haben Sie heute von dem Land im Vergleich zu damals?

Ich pflege immer noch Kontakte zu meinen Bekannten und Verwandten in Kasachstan. Außerdem unterhält meine Familie auch geschäftliche Beziehungen zu Kasachstanern.
So bin ich aus meiner Sicht gut informiert, was das aktuelle Leben in Kasachstan betrifft. Meine Vorstellungen von dem Land im Vergleich zu damals haben sich gar nicht geändert.

Gibt es vielleicht Parallelen zu Ihrem heutigen Leben in Berlin?

Natürlich gibt es Parallelen, da man versucht, das Leben von früher im Positiven genau so zu gestalten. So geht mein älterer Sohn inzwischen zum Judotraining. Die Ausflüge zum Fischen werden an die Nordsee und an die Spree verlagert. Auch die multikulturelle Gesellschaft in Berlin ähnelt in vielen Zügen dem multinationalen Kasachstan.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben – als Deutscher oder als Russlanddeutscher?

Ich würde mich als Deutscher mit einem russlanddeutschen Migrationshintergrund bezeichnen. Die Russlanddeutschen sind eine deutsche ethnische Minderheit, die in Russland leben. Die zugewanderten Russlanddeutschen, die bereits den größten Teil ihres Lebens hier in Deutschland verbracht haben, sind meiner Definition nach eher Deutsche, die jedoch einen russlanddeutschen Migrationshintergrund haben. Natürlich sind die Übergänge fließend, zumal aus meiner Sicht kein grundlegender Unterschied zwischen den Begriffen besteht.

Haben sie berufliche Pläne? Was möchten Sie noch erreichen?

Für die Zukunft wünsche ich mir noch weitere Perfektionierung meiner ärztlichen und chirurgischen Fähigkeiten, damit ich noch mehr Menschen auf dem Operationstisch möglichst optimal helfen kann. Das Attraktive in der Medizin ist, dass man niemals auslernt. Es gibt immer etwas Neues, immer neuere bessere Operationstechniken und Instrumente. So wird man das ganze berufliche Leben nach vorne gehen können, ohne jemals stehen bleiben zu müssen.
Des Weiteren möchte ich ein Fachbuch für plastische Chirurgie und Handchirurgie in russischer Sprache herausgeben, um das Wissen der westlichen Länder auch in Russisch auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion bekannt zu machen. Wir arbeiten mit mehreren Universitäten und Krankenhäusern aus Russland und Kasachstan zusammen; gern sind wir auch für weitere Kooperationen offen.

Herr Dr. Grundentaler, vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Dominik Vorhölter.

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