Neue Geschichten von der Verwirrtheitsfront: Andreas Maier begibt sich in seinem Roman „Kirillow“ ins verschwörerische Studentenmilleu von Frankfurt am Main. Juli Zeh hält es in „Spieltrieb“ mit den Neinsagern und Nihilisten

Dass man doch endlich wieder die Verbindung von Literatur und Politik eingehen sollte, danach wurde seit den Jahren der deutschen Pop-Literatur immer wieder gerufen. Ein Reflex deutscher Autoren auf diese Forderung war vor allem die Suche nach der eigenen Kindheit, wie zum Beispiel in Jana Hensels Debüt „Zonenkinder“. Nach den Terrorschlägen vom 11. September herrschte plötzlich wieder Ratlosigkeit. Davon zeugte unter anderem „Bryant Park“ von Ulrich Peltzer. Daneben gab es aber auch Autoren, die wie selbstverständlich politisch und literarisch anspruchsvolle Literatur schrieben, ohne sich an tagesaktuelle Ereignisse zu verlieren. Neben gestandenen Autoren wie etwa Christoph Hein („Willenbrock“) traten zwei Autoren mit außerordentlichen Debuts auf: Juli Zeh mit ihrem Roman „Adler und Engel“, der den Balkankrieg der 90er Jahre behandelt, und Andreas Maier mit „Wäldchestag“, die Zerstörung eines sozialdemokratischen Idylls in der hessischen Provinz.

Nach einem Reisebericht durch das Nachkriegs-Bosnien von Juli Zeh („Die Stille ist ein Geräusch“) und einem zweiten Roman von Andreas Maier, diesmal aus der südtiroler Provinz („Klausen“), haben die beiden Autoren nun zwei neue Romane nachgelegt. Sowohl Zeh als auch Maier widmen sich darin einer kritisch gesinnten Jugend, die gegen den Zustand der Welt zur Tat schreitet. Dass Juli Zeh in „Spieltrieb“ für ihr Exempel ein Gymnasium mit seinen frühreifen Schülern und übergebildeten Lehrern als Schauplatz wählt, Andreas Maier in „Kirillow“ hingegen das provinziell wirkende Frankfurt am Main mit seinen Studenten und einer plötzlich auftauchenden Gruppe von Russlanddeutschen, ist für die jeweilige Tour de Force ein zu vernachlässigender Unterschied.

„Spieltrieb“ erzählt die Geschichte der hyperintelligenten Ada am Ernst-Bloch-Gymnasium. Sie und der mit diabolischen Zügen ausgestattete Alev, der sich als „Urenkel der Nihilisten“ bezeichnet, treiben den Deutsch- und Sportlehrer Smutek und sich selbst in ein moralisches Dilemma: Wenn es nach Nietzsche keine Ordnungsinstanzen wie Moral oder Religion mehr gibt, bleibt einzig das Spiel als Lebensmetapher übrig. „Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben können.“

Zeh zeichnet eine Gesellschaft nach, die sich vor dem Hintergrund von Kriegen, Terrorakten und Amokläufen nicht mehr in ihren eigenen Kategorien zurechtfindet. Das Treiben der Protagonisten wird bloßer Selbstzweck: Alles ist Spiel geworden. Mit ähnlich universalen Kategorien arbeitet Maier in „Kirillow“. Der anarchische Freundeskreis um Frank Kober und Julian Nagel in Frankfurt am Main gerät durch ein Manifest eines ihnen völlig unbekannten Russen namens Andrej Kirillow in Bewegung. Dieser „Traktat über den Weltzustand“, auf der im Roman angegebenen Website www.kirillow.de zu finden, negiert jegliches Vorhandensein irgendeiner politischen Systematik, sondern erklärt den Zustand der Welt mit dem bloßen Handeln aller Menschen: Alles, was getan wird, ist vollkommen grundlos, auch wenn man es mit der größten Bedeutung tut.

Die politische Ausrichtung des Romans wird dabei vielfach gebrochen. So steht der kein Deutsch verstehende Anton Kolakow auf einer Geburtstagsfeier plötzlich vor Herrn Michels, dem hessischen Minister für Wissenschaft und Forschung. „Michels wurde immer unsicherer, denn der junge Mann vor ihm sah ihn immerfort bloß interessiert an und sagte weiterhin gar nichts. […] Er hielt sie jetzt alle für irre.“

Langsam wird bei solchen absurden Szenerien die kirillowsche Wahrheit sichtbar, die im grundlosen, verwirrenden Reden besteht. „Die Welt, so wie sie uns erscheint, ist ein rhetorisches Gebilde“, heißt es im Roman. Vielstimmigkeit und groteske Widersprüchlichkeit dominieren. „Je niedriger der Informationsgehalt, desto größer waren die Gewißheiten.“

Die Figuren, allen voran Julian Nagel, erscheinen als Gehetzte, Gejagte, Beunruhigte, Euphorisierte, die sich permanent „in einem Rausch befinden“. Und eigentlich gar nicht so recht wissen, was sie tun. Damit handeln sie im Prinzip ebenso grundlos wie diejenigen, denen sie sich widersetzen. Ein schier auswegloses Paradox. Und zum Schluss ist auch der „Traktat über den Weltzustand“ wieder vom Server genommen, so dass es zwar tatsächlich die Website gibt, aber das Kirillowsche Gesetz sich nur in den handelnden Figuren „aufgehoben“ findet.

Dass die jüngere deutsche Literatur ihre politische Bedeutung wiedergefunden hat, ist einerseits beruhigend. Andererseits kann man den Romanen von Juli Zeh und Andreas Maier einen grundlegenden Pessimismus an den Möglichkeiten einer Zustandsveränderung nicht abstreiten. Während Zehs Figuren ausgerechnet nach Bosnien flüchten, um dort befreit etwas Neues zu versuchen, scheitert der „Nagelsche Kreis“ in Maiers „Kirillow“ an seiner eigenen Zerstreutheit.

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