Der Ethnologe Jesko Schmoller lebte vom Sommer 2006 bis Ende 2007 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Er lehrte in dieser Zeit am Juristischen Institut. Für die DAZ berichtet er von seinem Leben aus der Mahalla, dem traditionellen Wohnviertel der Usbeken.

/Bild: Jesko Schmoller/

Der Tag, an dem ich mit Doris bekannt wurde, sollte auch der Tag ihres Verschwindens sein.
Frühmorgens war ich mit meinem usbekischen Gastbruder Umar zum russischen Markt in Taschkent aufgebrochen. Usbekische Basare kannte ich schon eine Menge, aber der russische Markt, auf dem emigrierende Familien angeblich ihren gesamten Hausstand verkauften, versprach eine Besonderheit zu werden.

„Kann ich noch irgendetwas vom Markt mitbringen?“, fragte ich meine Gastfamilie beim Frühstück. „Ein Igel wäre nicht schlecht“, meinte Muhabbad-Opa, meine Gastmutter. „Igel – kein Problem, werd mich bei der Gelegenheit auch gleich nach einer Schildkröte umschauen“, scherzte ich.

Der russische Markt war tatsächlich etwas Besonderes. Hier war ein Stück Sowjetunion erhalten geblieben. Einmal in der Zusammensetzung der Menschen, von denen natürlich ein Großteil Usbeken waren, aber eben auch viele Russen, Armenier, Aserbaidschaner. Zum anderen schwebte über diesem Chaos aus verrosteten Schrauben, vergilbten Physikschulbüchern und menschenhohen Brotbackmaschinen ein Geist, wie ich ihn nirgendwo sonst in Usbekistan wahrgenommen hatte. Etwas Künstlerisches, Avantgardistisches lag in der Luft – Überbleibsel der sozialistischen Aufbruchstimmung oder eine sich im Spiel mit Metallschrott behauptende Gegenkultur? – und kribbelte in meinem Inneren.

Unter einer großen Zeltplane wurden die Tiere verkauft. Kampfhunde, deren Besitzer sich die Leine mehrmals um den Unterarm geschlungen hatten. Kaninchen und Hasen, davon ein weißes Exemplar so groß, dass ich sicher war, dass er sich aus eigener Kraftanstrengung nicht würde bewegen können. Und eben auch Igel. Als Umar begann, sich nach einem kleinen Holzkäfig für den Transport umzusehen, wurde mir klar, dass meine Gastmutter nicht gescherzt hatte. „Ein Igel im Garten ist praktisch“, erklärte Umar, „weil er die Spinnen und Kakerlaken auffrisst.“

Auf dem Weg zum Bus entschieden wir über den Namen des Igels oder vielmehr der Igelin, denn es handelte sich um ein Weibchen. Da ich sie bezahlt hatte, durfte ich Vorschläge machen. Doris kam mir passend vor: Deutsch, altmodisch und auch für Usbeken aussprechbar.

Wieder daheim entließen wir Doris aus ihrem Gefängnis. Sie hatte sich in ihrer Angst schon recht gründlich in den Käfig entleert, war jetzt aber froh, dass ihre letzte Stunde noch nicht gekommen war und lief wieselflink in eine dunkle Ecke des Hofes, voll gestellt mit Baumaterial.

Zum Abend hin kamen meine Gasteltern von einer Feier zurück. Nachmittags hatte das neue Familienmitglied Doris noch zufrieden im Beet herumgewuselt. Nun ließ sie sich aber schon seit Stunden nicht mehr blicken.

Wichtiger war Muhabbad-Opa für den Augenblick jedoch, dass anscheinend weder Umar, noch einer seiner Brüder daran gedacht hatte, das Abendessen zu kochen. Sie stelle ihn zur Rede. „War davon ausgegangen, dass die anderen sich darum kümmern“, verteidigte er sich.

Mein Gastvater, Abdulla-Aka, trat hinzu. Wie gewöhnlich wurde Umar unter seinen Fragen kleinlaut. Eine Nachricht ging auf Umars Mobiltelefon ein, er zog es hervor und schaute auf das Display. Das war sein Fehler. Abdulla-Aka forderte das Telefon ein, nahm dann all seine Kraft zusammen und schleuderte es, in einer Handballerpose, gegen die Hauswand. Das Gerät – vielleicht Symbol für eine Zeit, die Abdulla-Aka nicht mehr verstand, eine Zeit, in welcher der Staat seine Bürger ihrem Schicksal überlassen hatte, ihren langen wortlosen Abenden vor dem Fernseher, nur unterbrochen von wodkagefluteten Hochzeitsbesuchen, ganz allein, mit dem Gefühl, versagt zu haben – zersprang in seine Einzelteile. Das Mobiltelefon, Schmuckstück einer neuen Unternehmerklasse, die nach neuen Regeln spielte, lag nun am Boden, kaputt.

All die Wut über das Scheitern, das ungerechte Scheitern, ging jetzt auf seinen Sohn nieder. Unter dem Griff des Vaters riss Umars Hemd tief ein. Ein wuchtiger Schlag traf seinen Rücken. Dann, endlich, traten die anderen in Aktion: Muhabbad-Opa versuchte ihren zornroten Sohn zurückzuhalten, der noch immer Hiebe einsteckte, und der kleine Alischer stürzte mit Wasser herbei, die erhitzen Gemüter zu kühlen.

Schließlich war Ruhe. Umar hatte sich schluchzend in sein Zimmer zurückgezogen. Die Einzelteile des Telefons waren aufgesammelt worden. Abdulla-Aka saß noch draußen im Hof, die Hand über dem Herzen, das Gesicht schmerzverzerrt. Wiederholt griff er in eine kleine Dose und legte sich weiße Pillen in den Mund. Seine Frau setzte sich neben ihn, und beide schauten ins Leere. Dann begannen sie – vielleicht in einem Versuch, in den Alltag zurückzukehren – etwas unbeholfen auf dem Hof umherschlurfend, nach Doris zu suchen. Mit einer Taschenlampe leuchteten sie das Beet ab, aber keine Spur des Igels. Es schien, als hätte Doris sich entschieden, nicht bei unserer Familie bleiben zu wollen. Wir sahen Doris nie wieder.

Von Jesko Schmoller

25/07/08

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