Ein Aufenthalt in Kasachstan verleiht einem Deutschen manchmal eine ganz andere Sicht auf die Heimat. Von dieser Erfahrung und wie er die unitalienischste Pizza außerhalb Italiens aß, berichtet Matthias Krause für die DAZ. Der 21-Jährige ist gerade Praktikant am Goethe-Institut Almaty.

Ein letzter Blick auf die Karte bestätigt: Es geht Richtung Sibirien, dorthin, wo die Grenzen von Kasachstan, Russland, China und der Mongolei zum trauten Stelldichein zusammentreffen. In Ust-Kamenogorsk alias Öskemen sollte ich im Sprachlernzentrum des Goethe-Instituts und an der Ostkasachstanischen Staatlichen Universität als lebende Requisite die Deutschkurse besuchen und mit Schülern und Studenten über Deutschland diskutieren. Bisher ausschließlich in Almaty gewesen, fühlte ich mich wie der Astronaut, der zum ersten Mal sein Raumschiff verlässt, um die unbekannten Weiten außerhalb des schützenden Kokons zu erforschen. Ich reiste dabei mit dem Bus, in der idealistischen Hoffnung, so das Land besser kennen zu lernen. „Authentizität“ nennt man das wohl in der Tourismusbranche. Die Fahrt in die Authentizität begann um sechs Uhr abends. Am Morgen dann erwachte ich zerschlagen von der langen und doch viel zu kurzen Nacht. Verschlafen schaute ich aus dem Fenster und wurde von einer Landschaft begrüßt, die man als solche nicht sogleich erkennt – der Steppe.
In der Steppe sucht das an mitteleuropäischer Lieblichkeit geschulte Auge vergeblich Halt. Nun glaubte ich sie zu verstehen, all die so genannten „Steppenvölker“, die im Laufe der Geschichte nach Europa zogen. Flucht vor der wüsten Weite, den gleichen Drang verspürte ich in diesem Moment auch in mir selbst. Und spätestens bei diesem die Historiographie bereichernden Gedanken merkte ich: Ich habe dieses Land noch lange nicht verstanden – und Schlafentzug erhöht nicht gerade die Denkfähigkeit. Nach 22 Stunden kam ich in Ust-Kamenogorsk an und war froh, dieses Stück Authentizität hinter mir zu haben.

Nun habe ich in Ust-Kamenogorsk viel Spannendes erlebt. Ich habe interessante Bekanntschaften gemacht. Ich habe viele Male die schier unglaubliche Gastfreundschaft der Russen und Kasachen genossen. Ich habe eine Frau kennengelernt, die die heilige Dreifaltigkeit in sich vereinte: Nationalität Kasachstanisch, Ethnie Deutsch, Muttersprache Russisch. (Dies ist für einen Mitteleuropäer schwer zu begreifen, haben doch in Europa zwei Weltkriege, Pogrome und Vertreibungen zu einer homogenen und leider sehr exklusiven Einheit von Staat, Nation und Sprache geführt.) Ich habe die beste und unitalienischste Pizza außerhalb Italiens gegessen, und das nicht nur einmal. Kurz: Ich habe diese Stadt mit ihren zwei Flüssen schnell ins Herz geschlossen.

Aber meine Erfahrungen sind solche, die jeder halbwegs aufgeschlossene Fremde bei einer Reise durch Kasachstan so oder so ähnlich machen kann. So möchte ich von etwas berichten, was vielleicht Anspruch auf allgemeines Interesse erheben kann: Das Bild von Deutschland, oder besser im Plural: Die Bilder von Deutschland.

In den unzähligen Diskussionen mit den Studenten begegnete mir ein Deutschland, das mir völlig unbekannt schien. Von unendlichen Autobahnen und unvorstellbarer Sauberkeit war da die Rede, von absoluter Korrektheit und Pünktlichkeit, das alles gewährleistet von einem emsigen Fabelwesen: dem Deutschen. Das Deutschlandbild ist von Vorurteilen geprägt. Aber es sind Vorurteile, wie man sie sich nicht schmeichelhafter vorstellen könnte. Und doch ist es ein Kreuz: Der Deutsche würde so gern für die ach so alternative Berliner Kulturszene und ihre vorbildliche Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit geliebt werden. Als humorvoll möchte er gar gelten! Die Begeisterung für die schon überwunden geglaubten deutschen Tugenden berührt ihn eher peinlich und möchte so gar nicht mit seinem Selbstbild übereinstimmen. Man nimmt ihm seine in Olivenöl getränkte Wandlung vom spießigen Drillmeister zum mediterranen Lebemann nicht ab. Positive Vorurteile sind anscheinend genauso unkaputtbar wie negative.

Olympisches Feuer

Eine Schülerolympiade im Fach Deutsch, an der ich als Mitglied der Jury teilnahm, gab weiteren Anlass zur Reflexion. Zwanzig von ihren Lehrerinnen sorgsam auf diesen Tag vorbereitete Schülerinnen erzählen der geneigten Jury von Deutschland, beziehungsweise der BRD, wie es hier noch heißt. Auf die Frage, wen sie für den wichtigsten Deutschen der Gegenwart halte, antwortete eine Schülerin in beinah perfektem Deutsch und ohne mit der Wimper zu zucken: Dieter Bohlen! Man war geneigt, vom Stuhl zu kippen. Dieselbe Schülerin hatte fünf Minuten zuvor auswendig ein Schillergedicht von beeindruckend ermüdender Länge vorgetragen. (Man verzeihe mir, dass ich mich an den Titel nicht mehr erinnere, aber ich bin Deutscher, ich kenne kein einziges Gedicht von Schiller.) Die junge Dame versprühte – wie viele ihrer Mitschülerinnen auch – unglaublichen Ehrgeiz, Lernfreude und Elan – Jugendliche, die für Kasachstans Zukunft Gutes verheißen lassen, Dieter Bohlen hin oder her. Zu meinem Leidwesen war die resolute Olympionikin trotz mehrerer beinah flehender Nachfragen meinerseits nicht im geringsten gewillt, dem deutschen Bildungsideal zu folgen und vielleicht einen Günther Grass an die Stelle des peinlichen Jammer-Barden zu setzen. Aber dürfen wir überhaupt so arrogant sein und den Deutschschülern unser in jahrelanger Pflege erstarrtes Bild von „unserem“ Land aufzwingen? Jeder Ausländer erarbeitet sich schließlich sein ganz individuelles Bild von Deutschland. Und seien wir doch ehrlich: Geben Friedrich Schiller und Dieter Bohlen nicht ein schönes Paar ab? Außerdem: Wie sieht denn das Kasachstanbild eines Deutschen aus, so er denn überhaupt ein solches hat? Jurte und Atomversuche?

Manty versus Bockwurst

Deutschland ließ mich nun nicht mehr aus seinen Fängen. Sogar während eines Abendessens bei einer überaus sympathischen kasachischen Deutschlehrerin und ihrer ebenso sympathischen Tochter gab es vor der fernen Heimat kein Entkommen. Doch auch wenn hier ernstere Themen zu behandeln sind, muss zuvor eines angemerkt werden: Das Essen schmeckte fantastisch!

Als wir uns um neun Uhr samt gefüllten Mägen wohlig zurücklehnten, kam der Familienvater erschöpft zur Tür herein. Überstunden, Zwölf-Stunden-Tag, trotzdem freute er sich über den Gast. Während das Essen für ihn aufgewärmt wurde, steuerte das noch junge Gespräch in Richtung des unvermeidlichen Vergleiches zwischen Deutschland und Kasachstan. Prekär für den deutschen Gast, dass der Vergleich – natürlich auch auf Grund der Autobahnen – eindeutig zu Gunsten Deutschlands ausfiel. Lakonisch lächelnd offenbarte mir mein Gastgeber auch den Grund dafür: „Ihr Deutschen seid so fleißig, aber wir Kasachen sind faul.“ Das sagte er, der gerade von zwölf Stunden Arbeit nach Hause kam und dafür einen Lohn erhält, der dem Taschengeld eines deutschen Schülers entspricht. „Ihr seid so fleißig!“ Wann habe ich denn eigentlich meine letzte Autobahn gebaut? Von welchen Deutschen spricht er da überhaupt? Von denen, die verbittert den Generalstreik ausrufen, weil man ihnen 20 Minuten mehr Arbeit abnötigen will, 20 Minuten in der Woche, wohlgemerkt? Oder von mir, einem von den Eltern durchfinanzierten Studenten ohne Not und ohne Sorgen – und meistens auch ohne Arbeit? Ich befand mich plötzlich in der Situation, dass ich mein Gastland gegen eine unerreichbar scheinende Illusion meines Heimatlandes verteidigen musste.

Die nächste Frage stürzte mich dann endgültig in Verlegenheit: „Was kann man machen, dass es uns genauso gut geht wie euch in Deutschland?“ Was soll man darauf antworten? Entfesselt einen Weltkrieg und verwüstet einen ganzen Kontinent? Danach lasst euch von einer Generation, die Entbehrungen und Kadavergehorsam gewohnt ist, das Land wieder aufbauen, großzügig unterstützt von den USA? In den folgenden Jahrzehnten verwaltet den Wohlstand einfach mehr recht als schlecht? Fertig? Bei solch einer Frage merkt man, dass man selbst beim besten Willen nicht sagen kann, worin die offensichtliche Ungleichheit genau begründet liegt. Aber wird Ungerechtigkeit erträglicher, wenn man ihre Gründe kennt? Statt zu antworten, lud ich mir noch zwei Manty auf den Teller und lenkte das Gespräch in unproblematischere, da kulinarische Fahrwasser. Ein Vergleich zwischen der deutschen und der kasachischen Küche ist schließlich ein nicht weniger komplexes, aber gleichzeitig weitaus appetitanregenderes Sujet. Vielleicht gibt es ja noch Nachtisch?

Von Matthias Krause

14/04/06

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