Konstantin Grigorjewitsch Makarewitsch war einst ein berühmter Gletscherforscher. Heute interessiert seine Arbeit kaum noch jemanden, denn Forschung hat im unabhängigen Kasachstan nicht mehr die gleiche Bedeutung wie in vergangenen Tagen. Dabei kennt Makarewitsch die kasachischen Gletscher länger als die meisten seiner Kollegen. Ein Porträt über einen Wissenschaftler der Sowjet-Ära, der dem Verlust seiner Heimat, der Armut und dem Alter stoisch eines entgegensetzt: Arbeit.
/Foto: Edda Schlager/

Makarewitschs Frau ist gestürzt. Ein überfrorener Weg vor dem Haus ist ihr zum Verhängnis geworden. Sie wollte nur einkaufen, schräg gegenüber. Eine Nachbarin hat den Notarzt gerufen. Zum Glück ist nichts weiter passiert, nichts gebrochen. Lediglich das Gedächtnis hat Frau Valentina kurzzeitig verloren. Hat ihren Mann und die Tochter nicht erkannt, als sie in den eigenen vier Wänden wieder zu sich kam. Makarewitsch ist erst einmal ruhig geblieben – und weiter arbeiten gegangen. Zum Unglück der Tochter, die sich jetzt doppelt Sorgen macht: um die Mutter und um ihn, dem auf dem Weg zur Arbeit sonst was passieren könnte.

Dem alten Charmeur fällt das Flirten zunehmend schwer

Es ist Winter. Die Straßen und Wege in der kasachischen Hauptstadt Almaty sind wie gewöhnlich dick vereist und Makarewitsch ist nicht mehr gut zu Fuß. Er geht langsam und mit Stock, ist schwerhörig und das Herz will nach dem Infarkt auch nicht mehr so richtig – Makarewitsch ist 85 Jahre alt. Dennoch lässt ihn die Sorge der Tochter unbeeindruckt. Soll er untätig zu Hause sitzen und sich ungute Gedanken machen? Was aus seiner Frau nach dem Unfall werden könnte, verdrängt er lieber. Bisher sind sie beide, Gott sei’s gedankt, alleine zurecht gekommen. Ganz bewusst sind sie vor ein paar Jahren von der Tochter weggezogen, in eine eigene Wohnung. Die Fürsorge der Tochter hat sie erdrückt.

Seit 57 Jahren sind Makarewitsch und seine Frau verheiratet. Walja nennt er sie, und sie ihn Koté, die kaukasische Form seines Vornamens Konstantin. Manchmal herrscht sie ihn auch mit ‚Makarewitsch’ an. Wer die beiden zusammen sieht, schlägt sich leicht auf seine Seite. Er ist der Zugängliche, Ausgeglichene, Entgegenkommende. Sie die Strenge, Kantige, Unbequeme. Makarewitsch ist noch immer Charmeur, obwohl ihm das Flirten zunehmend schwer fällt, des Hörgeräts wegen. Manchmal beginnt es plötzlich laut zu pfeifen. „Papa“, schreit ihn seine Tochter dann an und zeigt auf ihr Ohr. Also schaltet er das Hörgerät ganz aus und brummt nur noch zustimmend, wenn man ihn anspricht – stets mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht unter den wild emporstehenden Augenbrauen, in denen die weißen Borsten längst überwiegen.

Makarewitsch liebt die Unabhängigkeit. Selbst ein Mobiltelefon – für den Notfall, wie die Tochter betont – kommt ihm deshalb nicht in die Tasche. Er ist gewohnt, seiner Wege zu gehen, Kontrolle liegt ihm nicht. So hat er es Jahrzehnte lang gehalten, so hält er es jetzt.
Er geht also weiter arbeiten, trotz der kranken Frau zu Hause, trotz des Alters. Mit 85 ist das nicht selbstverständlich, auch nicht in Kasachstan. Rund 35.000 Tenge Rente, knapp 200 Euro, bekommen Makarewitsch und seine Frau pro Monat. Das reicht gerade, um die Kosten für die Wohnung und die täglichen Ausgaben zu decken.

Mit 70 Jahren hatte sich Makarewitsch offiziell zur Ruhe gesetzt. Das Geographische Institut der Kasachischen Akademie der Wissenschaften entließ ihn damals mit allen Ehren, die ein langjähriger wissenschaftlicher Leiter verdient. Genau zehn Jahre später riefen die Kollegen ihn zurück, aus Not, weil fast alle Wissenschaftler nach der Unabhängigkeit Kasachstans das Land längst gen Westen verlassen hatten.

Mit 85 Jahren noch eine 40-Stunden-Woche

Makarewitsch war in Kasachstan geblieben und kehrte gern ins Institut zurück. Dass dabei ein Gehalt, rund dreimal so hoch wie seine Rente, heraussprang, begrüßte er – man könne ja jetzt die Ausbildung der Enkel unterstützen. Er unterschrieb einen Vollzeit-Vertrag, 40 Stunden die Woche. „Zehn Jahre habe ich mich ausgeruht, jetzt kann ich wieder arbeiten“, sagte er. Dass sich in diesen zehn Jahren eine Menge verändert hatte am Institut, merkte er erst später.

Makarewitsch ist ein Wissenschaftler sowjetischen Typs, so kann man das sagen. Er ist Glaziologe, Gletscherforscher, und mit dem Rückenwind der aufstrebenden Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg wissenschaftlich groß geworden. Seine Zeit, das waren die 50er, 60er, 70er Jahre.

1940 war er aus seiner Heimatstadt Swerdlowsk zum ersten Mal nach Alma-Ata und in die Berge des Tienschan gekommen. Eine Liebe auf den ersten Blick. Die zweite Tour wird durch den Krieg vereitelt. Doch 1946 kehrt er nach Alma-Ata zurück. Von da an treibt er sich jeden Sommer in den Bergen vor der Stadt herum, wird Kletter-Instrukteur des „Alplagers“ am Pik Talgar, einem Fünftausender, den er dutzendfach besteigt.

1950 kommt die Liebe zu Fräulein Valentina hinzu, fünf Jahre jünger als er, auch sie begeisterte Alpinistin. Drei Monate nach dem Kennenlernen findet im Oktober die Hochzeit statt, der Sohn wird im Jahr darauf geboren, ein weiteres Jahr später folgt der Abschluss als Geograph. Makarewitsch beginnt seine Karriere als Glaziologe an der Akademie. Das bringt viele Reisen mit sich, manchmal ist er ein halbes Jahr lang weg. Und Walja weiß nie, ob er wiederkommt. Die Gletscher haben ihn fest im Griff, vor allem einer, der Tujuksu, zwei Stunden von Alma-Ata entfernt. Er wird Makarewitschs Hausgletscher, ein Freund nahezu, ein Gefährte und Lehrmeister.

„Der Gletscher lehrt Dich, nicht in Panik zu verfallen“

Mit dem Tujuksu verbringt Makarewitsch einen Großteil seiner Zeit, plant Expeditionen, sammelt Daten, stellt den Gletscher auf internationalen Symposien vor. Frau Valentina reist derweil allein durch die Sowjetunion, fährt mit den Kindern – zum Sohn ist eine Tochter hinzugekommen – ans Schwarze Meer und an den kirgisischen Gebirgssee Issyk-Kul. Auch sie pflegt ihre Unabhängigkeit, gezwungenermaßen. 1958 wird der Tujuksu erstmals von einer internationalen Expedition vermessen, Makarewitsch ist der Chef der Truppe. Die Wissenschaft der Sowjetunion zu dieser Zeit ist in ihren besten Jahren.

Spricht Makarewitsch heute darüber, blitzen seine Augen. Seine Bewegungen werden sicherer, die Stimme fester, und mit Freude erzählt er detailliert vom Gletscher. Keine Frage nach Persönlichem bekommt von ihm so viel Aufmerksamkeit. „Der Gletscher ist gefährlich“, sagt er, „jeden Moment kannst du in eine Gletscherspalte fallen, die Sonne verbrennt dir das Gesicht, wenn du nicht weißt, wie der Gletscher und das Wetter dort zusammenhängen. Er lehrt dich, nicht in Panik zu verfallen, die Ruhe zu bewahren.“ Makarewitsch beschwört das Ideal der Gletscherforscher: Sie seien diejenigen unter den Wissenschaftlern, die den größten Zusammenhalt hätten, die sich gnadenlos aufeinander verlassen könnten, weil sie darauf angewiesen seien. „Glaziologen sind härter, abgebrühter und selbstsicherer als andere.“
Als Makarewitsch das sagt, sitzt er zu Hause in seinem Arbeitszimmer, das gleichzeitig sein Schlafzimmer ist. Neben dem Schreibtisch steht ein Bett, das tagsüber mit einem von Frau Valentina gehäkelten Überwurf bedeckt ist, in einer Ecke ein alter Computer. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Papiere: Manuskripte, Literaturlisten, wissenschaftliche Jahrbücher und Zeitschriften.

Keine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion zum Klimawandel

Zwei oder drei Mal in der Woche geht Makarewitsch ins Institut, sammelt Material. Zu Hause sichtet er, wertet aus und stellt Daten für den World Glacier Monitoring Service zusammen. Das Institut in der Schweiz gilt als weltweite Instanz in Sachen Gletscher und Klimawandel und bringt alle zwei Jahre eine Übersicht über Gletscher auf der ganzen Welt heraus. Der Tujuksu gehört zu 30 Gletschern weltweit, über die ununterbrochene Messreihen seit 1980 vorliegen. Makarewitsch schreibt die Datenreihen weiter fort.
Er ist sich der Brisanz dieser Arbeit bewusst. Seit 1972 schmilzt der Tujuksu zurück, fast 700 Meter hat der Gletscher seitdem an Länge verloren. Makarewitsch kennt die Daten auswendig. 1979 habe er erstmals vom möglichen Klimawandel gehört, doch immer noch an eine Phase gedacht, die wieder von einer kälteren Periode abgelöst werden würde.
Es gäbe Kollegen am Institut, sagt Makarewitsch, die würden immer noch auf diese Periode hoffen, auf ein erneutes Anwachsen des Gletschers. Das sei natürlich unwahrscheinlich, meint der Forscher, und er bedauert, dass es am Institut keine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema gäbe.

Er wird einsilbig, wenn es um die Kollegen von heute geht. Ja, ein paar Junge gäbe es noch, zwei oder drei, die sich für seine Arbeit interessierten, gibt er zögernd zu. Die Forschung sei eingeschlafen, es fehle an Geld und an Willen. Am Institut wird jetzt häufiger Kasachisch gesprochen, die neue alte Landessprache. Makarewitschs Sprache ist Russisch.

Was er nicht aussprechen mag: Forschung ist in Kasachstan seit der Abnabelung von Russland in der Bedeutungslosigkeit versunken. Makarewitsch hat seine wissenschaftliche Heimat verloren. Auch das Alma-Ata seiner erfolgreichsten Jahre gibt es nicht mehr, die Stadt heißt heute Almaty. Viele seiner früheren Kollegen sind gegangen oder tot.

Makarewitsch klagt nicht darüber. So, wie er über Waljas Sturz nicht klagt. Seitdem das passiert ist, liegt sie den größten Teil des Tages im Wohnzimmer auf der Couch, sie fühlt sich schwach, der Kopf schmerzt. Wenn ihre schlechte Laune Oberhand gewinnt, schaltet Makarewitsch das Hörgerät aus und zieht sich in sein Zimmer zurück.

Er hat noch ein Werk vor sich, für die Jungen, die vielleicht doch einmal in seine Fußstapfen treten wollen. „Um zu erforschen, was morgen sein könnte, muss man wissen, was wir Alten gemacht haben“, sagt er. Deshalb schreibt er an einem Buch über seinen Gletscher, den Tujuksu, fasst die Arbeit von 50 Jahren zusammen. „Ich habe Jahrzehnte auf Gletschern gearbeitet“, scherzt er, „das hat meinen Kopf gut konserviert.“ Einschüchtern lässt Makarewitsch sich auf keinen Fall. (n-ost)

Von Edda Schlager

25/01/08

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