Das Russlanddeutsche Kinder- und Jugendtheater aus Eppingen erzählt von der Bühne die Geschichte der Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Ihre Vorfahren waren Deutsche aus Kasachstan, Ukraine, Usbekistan und Russland. Sie selbst sind bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen. Mit der ehemaligen Heimat ihrer Vorfahren haben sie wenig zu tun. Darüber wissen sie lediglich aus den Erzählungen ihrer Eltern, Großeltern oder aus alten Fotoalben. Doch über die Geschichte können sie mehr erzählen als manch einer ihrer Altersgenossen oder sogar Erwachsenen. Denn die Geschichte ihrer Vorfahren stellt den Schwerpunkt ihrer Theaterstücke dar.

Vor einem Jahr wurde in einer kleinen Stadt im Süden Deutschlands das Russlanddeutsche Kinder- und Jugendtheater geboren. Zuvor haben die Kinder miteinander getanzt und hatten keine großartigen Pläne – insbesondere nicht im Zusammenhang mit Schauspielerei.

„Es hat sich von allein ergeben“, lachen die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler darüber, wenn sie gefragt werden, wie sie sich aus einer Tanzgruppe in eine Theatergruppe verwandelt haben. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht ein Zufall, oder vielleicht von höheren Mächten bestimmt. Fakt ist: die Gruppe fand selbst zueinander. Es gab kein Casting, keine Vorauswahl. Alle Kinder kamen aus unterschiedlichen Gründen in die Gruppe und ihr Talent blieb nicht unbemerkt – sowohl das Talent von jedem Einzelnen als auch ihre unübertroffene Fähigkeit, sich auf der Bühne zu verwandeln und zu einem Ganzen zu werden.

Auf der Bühne mit professionellen Schauspielerinnen

In einem Jahr spielte das Theater gleich drei Premieren. Zwei Theaterstücke „Es war einmal in Wolhynien…“ und „Meine Leute“ schrieb und inszenierte die Leiterin der Gruppe, Katharina Martin-Virolainen. Im November nahm die Formation am Theaterprojekt der LMDR-Hessen teil, wo das Theaterstück von Wendelin Mangold „Vom Schicksal gezeichnet und geadelt“ aufgeführt wurde. Für dieses Stück bekam der russlanddeutsche Schriftsteller im Jahr 2013 den Preis der Hessischen Landesregierung „Flucht, Vertreibung, Eingliederung“.

Die junge Theatergruppe hatte das Glück, mit professionellen Schauspielerinnen auf einer Bühne zu stehen – unter anderem mit Lilia Henze, die gleichzeitig Regie für das Theaterstück führte, und ihrer Kollegin Viktoria Gräfenstein. Beide Schauspielerinnen gehörten früher zur Besetzung des legendären Deutschen Theaters in Kasachstan. Das Projekt wurde von der Hessischen Landesregierung gefördert und stand unter der Schirmherrschaft von Margarete Ziegler-Raschdorf, der Hessischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebe und Spätaussiedler.

Im Theater erzählen Russlanddeutsche ihre Geschichte

„Wir wollen die Geschichte unserer Eltern und Großeltern erzählen, denn viele wissen nichts über ihr Schicksal und ihr Leben“, erklärt die junge Schauspielerin Paulina Martaler-Martin ihre Motivation. Der Großvater von Paulina ist in Kasachstan geboren und aufgewachsen. Die Großmutter kommt gebürtig aus Russland, wo auch Paulinas Mutter geboren und aufgewachsen ist. „In unserer Familie reden wir viel über dieses Thema, doch in anderen redet man kaum darüber. Die Kinder fragen nicht und die Eltern erzählen nichts von sich aus. In unserem Theater lernen wir nicht nur das Schauspielen, sondern auch viel über die Geschichte.“

„Ich liebe unser Theater – die Stücke sind sehr kreativ“, ergänzt ihre Kollegin Jana Reiswich. Ihre Eltern kommen ursprünglich aus Kasachstan. Die junge Schauspielerin hat sich schon immer für das Theaterspiel begeistert und kam vergangenes Jahr zufällig dazu. Am Tag der Premiere des ersten Theaterstücks kam Jana auf Einladung ihrer Freundinnen zu den Generalproben und übernahm spontan die Rolle der Erzählerin. Seitdem gehört sie fest zur Besetzung. „In unserer Theatergruppe herrscht eine besondere Atmosphäre – wir sind ein starkes Team, das stets zusammenhält“, betont sie stolz.

Damit die jungen Schauspieler auch verstehen, was sie wie ihm Rahmen des Theaterstücks auf der Bühne zeigen, wird jede einzelne Szene gesondert und gründlich ausgearbeitet. Begleitend dazu werden historischen Fakten aufgeführt oder etwas aus dem echten Leben berichtet. Mit der Zeit stießen auch junge Menschen zum Theater, die keinerlei Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion haben. Früher spielten sie in der Theatergruppe des Jugendzentrums Eppingen, unter der Leitung von Katharina Martin-Virolainen, und gesellten sich nun auch zum neuen Projekt. „Uns verbindet die Liebe zum Theater und das Bewusstsein, dass es wichtig ist, Geschichte zu kennen“, erklären die jungen Schauspieler.

Vorsitzender der Landsmannschaft als Ehrengast

Evelyn Schell wirkt seit 2015 bei unterschiedlichen Projekten mit. Dank der Theatergruppe begann auch sie, sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren. Sie fragte bei ihren Eltern und Großeltern nach, erkundigte sich nach ihrer Herkunft und ihrem Leben in der ehemaligen Sowjetunion. Die Vorfahren von Evelyn waren Wolgadeutsche. „Ich habe viel Neues für mich entdeckt“, erzählt sie. „Wenn du diese Punkte auf der Karte siehst, dann wird dir erst bewusst, welchen Lebensweg unsere Eltern, Großväter und Großmütter gegangen sind.“

Ende des Jahres feierte das Theater die Premiere des Stücks „Meine Leute“, an dem 15 junge Schauspielerinnen und Schauspieler mitgewirkt haben. Als Regisseurin agierte erneut Lilia Henze, unterstützt von ihrer Kollegin Viktoria Gräfenstein. Die Besonderheit dieses Theaterstücks stellte die Vielfalt der Sprache dar – von Dialogen in Dialekt bis hin zu seitenlangen Reimen. Abgerundet wurde das Ganze durch die zahlreichen visuellen und musikalischen Effekte.

Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Johann Thießen, der als Ehrengast zur Premiere eingeladen war, gratulierte der Theatergruppe zum Erfolg. Er betonte, dass sie durch ihr Theaterspiel einen wichtigen Beitrag leisteten, um die Erinnerung an die deutschen Vorfahren zu erhalten.

Das Russlanddeutsche Theater geht auf Tournee

Die Projekte des Theaters wurden vom Kulturreferat für Russlanddeutsche in Detmold und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie von der Friedlandhilfe e.V. gefördert. Für das Jahr 2020 sind keine neuen Theaterstücke geplant, da die Theatergruppe Anfragen aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands hat und erstmal eine kleine Tour plant. Parallel arbeitet sie an einem neuen Tanzprogramm für die kommende Saison.

Eine große Rolle in der schnellen und positiven Entwicklung des Theaters spielten unumstritten die Eltern. „Ohne ihre Unterstützung wäre nicht einmal die Hälfte möglich gewesen“, erklärt die Leiterin des Theaters Katharina Martin-Virolainen. Sie ist zudem sehr dankbar, dass neben den Eltern auch die Großeltern die Theatergruppe in ihrer Tätigkeit unterstützen. „Das ist unser gemeinsamer Erfolg“, bestätigen die Mitwirkenden. „Wir wollen, dass die Erinnerung und die Geschichte weiterleben.“

Katharina Martin-Virolainen

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