Eine Reise durch die Geschichte der Wolgadeutschen von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zu den tragischen Entwicklungen mit Deportation und Ausbeutung im 20. Jahrhundert. Das literarisch-szenische Schauspiel „Die Kist‘ von der Wolga“ mit Maria und Peter Warkentin vom Russland-Deutschen Theater Niederstetten erzählt diese anhand von sechs überlieferten Werken überwiegend wolgadeutscher Autoren.

Im Mittelpunkt dieses literarischen Erbes steht stets das Schicksal der Wolgadeutschen. Bernhard Ludwig von Plahten, der im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) Offizier war und nun in den Dienst der russischen Zarin wollte, hinterließ mit seinem 1766-1767 entstandenen Poem „Reise-Beschreibungen der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen“ (auch als „Auswanderungslied“ bekannt) vor allem ein historisches Dokument über die Auswanderung nach Russland. Darin beschreibt er nicht nur die Seereise, sondern vermittelt auch persönliche Eindrücke und wichtige Informationen über den Verlauf der Auswanderung bis zum Endpunkt an der Wolga. Das „Einwanderungslied“ war in Handschriften in den Wolgakolonien verbreitet und zählt zu den Anfängen des russlanddeutschen Schrifttums. Der in Versen verfasste Text wurde zum ersten Mal in dem Werk „Unsere Kolonien“ (Odessa, 1898) von dem Historiker Alexander Klaus veröffentlicht. Es ist überliefert, dass von Plahten Schulmeister in den wolgadeutschen Kolonien Hussenbach, Dönhoff und Jost war.

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Auch das 1802 erschienene Buch „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge´s Leben in Russland“ schildert nicht nur die Sitten und Gebräuche der Russen, sondern beschreibt auch die Schwierigkeiten nach der Ankunft, das kleinstädtische Leben im russischen Saratow und in umliegenden „deutschen“ Ortschaften. 1746 als Sohn eines Zeugmachers in Gera geborene Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge gelangte 1764 auf seiner Wanderschaft nach Lübeck. Hier schloss er sich einem Zug von Auswanderern an. Nach der Ankunft im Siedlungsgebiet zog er bald nach Saratow, wo er zunächst in einer Manufaktur arbeitete. Danach war er Mitglied einer Schauspielertruppe. Nachdem ihm mit Hilfe eines falschen Passes die Flucht aus Russland gelungen war, kehrte er 1774 in seine Geburtsstadt zurück. 1988 erlebte „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge’s Leben in Rußland“ eine kommentierte Neuauflage in der Reihe „Sammlung denkwürdiger Reisen“ bei Edition Temmen (Bremen).

Auf historischen Ereignissen basiert die Geschichte „Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel“, die in schaurigen Bildern den Überfall auf Mariental am 15. August 1776 beschreibt und eine zentrale Stellung im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen einnimmt. Die mündlichen Überlieferungen der Geschichte zeichneten der Marientaler Anton Schneider (1798-1867) und um 1861 der Pastor Friedrich Dsirne auf. Auf diesen Texten beruht das Schauspiel, das Gottlieb von Göbel und Lehrer Alexander Hunger 1914 schufen: „Fest und treu oder der Kirgisen-Michel und die schön‘ Ammie aus Pfannenstiel. Historisches Festspiel zum 150. Jubiläum der Ankunft der ersten deutschen Ansiedler an der unteren Wolga. In drei Akten“. Als Folge des grausamen Überfalls wird Hannmichel zusammen mit anderen Kolonisten auf dem Sklavenmarkt „im Lande der Kirgisen“ verkauft. Seine Verlobte „Schön Ammi“ bleibt ihm die ganze Zeit treu, denn erst nach zwölf Jahren Gefangenschaft darf Hannmichel dank der Hilfe der Tochter seines kirgisischen Herrn in seine Heimat zurückkehren. Seitdem sind „Schön Ammie“ und Hannmichel ein glückliches Paar – die Szene spielen Maria und Peter Warkentin eindrucksvoll nach.

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„Das Lied vom Küster Deis“, das als „wolgadeutscher Versepos“ bezeichnet wird, stellt Deis, einen Mann mit vielen Talenten, in den Mittelpunkt – in seinem Dorf Neuruslan ist er Küster, Kantor, Lehrer, Organist, Sekretär, Regent, Archivar, Feldscher, Glockenläuter und Sänger. „Himmlisch schön war seine Stimme“. Auf der Bühne erleben die Zuschauer Deis als strengen Schullehrer und als treuen Familienvater. Gegen den Überfall der „Kirgisen“ hat Deis die Leute in der Kirche bei Gesang und Gebet versammelt und damit eine verblüffende Wirkung erreicht – die Angreifer ziehen ab. Danach wird ausgelassen das Freudenfest gefeiert. Der Verfasser Pastor David Kufeld (stammt aus der Kolonie Schaffhausen) war 1912 in der Bezirksabteilung für Volksbildung tätig, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich freiwillig zur Armee. Das „Lied“ ist als Beitrag zur 150-Jahrfeier der Ankunft der deutschen Siedler an der Wolga entstanden, genauer zum Gründungsjubiläum von Dobrinka auf der Bergseite, dem ersten wolgadeutschen Dorf.

Der Roman von Gerhard Sawatzky (1901–1944) „Wir selbst“ bedeutet einen gewaltigen Zeitsprung nicht nur auf der Bühne – die Handlung spielt in der Sowjet-zeit an der Wolga, wo der Klassenkampf und die Kollektivierung in den deutschen Siedlungen in vollem Gange sind. Gerhard Sawatzky, in Blumenfeld (Südukraine) geboren, studierte am Pädagogischen Herzen-Institut Leningrad und wirkte als Lehrer und Redakteur in Engels/Wolga. Er gehörte zu den führenden Vertretern der jüngeren Generation der wolgadeutschen Schriftsteller in der Zwischenkriegszeit und war zuletzt Vorsitzender der wolgadeutschen chriftstellerorganisation. 1938 wurde er verhaftet und sein Roman beschlagnahmt – Sawatzky starb 1944 im Lager in Solikamsk. Seine Ehefrau konnte bei der Deportation nach Sibirien eine maschinengeschriebene Kopie des Manuskripts des vernichteten Romans (1.200 Seiten!) mitnehmen und sie trotz aller Gefahren und Entbehrungen wie durch ein Wunder aufbewahren. In den 1980er Jahren wurde die vollständige Fassung des Romans „Wir selbst“ im Almanach „Heimatliche Weiten“ in einigen Fortsetzungen (HW 1984-1988) veröffentlicht.

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Die Deportation der Wolgadeutschen kommt auf der Bühne tiefemotional mit dem Romanauszug von Victor Klein (1909-1975) „Der letzte Grabhügel“ zum Ausdruck: Eine Entwicklung, die das Ende des Deutschtums an der Wolga einleitete. In Warenburg an der Wolga geboren, studierte Klein Germanistik am Deutschen Pädagogischen Institut in Engels und war anschließend vier Jahre lang Dozent für deutsche Sprache und Literatur am selben Institut. 1941 wurde er mit Familie nach Sibirien (Kansk) deportiert und kam kurz darauf in die Arbeitsarmee. Danach war die Fakultät für Fremdsprachen der Pädagogischen Hochschule Nowosibirsk seine Wirkungsstätte, wo er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur tätig war. Wie kein anderer russlanddeutscher Autor des 20. Jahrhunderts hat der Wolgadeutsche Victor Klein eine Vielzahl von Kulturfeldern geistig beackert. Als Dichter, Erzähler, Folkloresammler, Verfasser von Lehrbüchern und methodischen Anleitungen, Pädagoge und Förderer junger Talente gehörte er zu den bedeutendsten Vertretern der Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion. Er war in jeder Hinsicht wegweisend für die russlanddeutsche Literatur und Kultur überhaupt. Die pädagogische Tätigkeit hatte für den Schriftsteller Klein einen besonderen Vorrang. „Der Deutschunterricht von Heute ist die Literatur von Morgen“, pflegte er zu sagen.

Als einer der ersten in der deutschen Nachkriegsliteratur wagte sich Victor Klein an ein Thema, das Jahrzehnte lang tabu war: Deportation der Russlanddeutschen nach Sibirien und Kasachstan. Bereits bei dem Schriftstellerseminar in Krasnojarsk im Juli 1962 las er einen Auszug aus seinem Romanentwurf „Der letzte Grabhügel“ und riss damit alle Anwesenden in seinen Bann. Dass dieser Romanauszug damals oder noch Jahre später veröffentlicht werden könnte, war völlig undenkbar. Als Klein 1975 stirbt, vernichtet seine Witwe, dem Psychoterror nicht gewachsen, zwei Romane („Das Leben der Wolgadeutschen“ und „Der letzte Grabhügel“), die ihr Mann noch kurz vor seinem Ende fertiggestellt hatte. Der damals verlesene Romanauszug konnte erst 1988 in der deutschsprachigen „Roten Fahne“ nach handschriftlicher Fassung von Rudolf Klein, dem Bruder des Schriftstellers, veröffentlicht werden.

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In der Schlussszene des Romanauszugs von Victor Klein wird ein wolgadeutsches Dorf nach dem Erlass vom 28. August 1941 „ausgesiedelt“. Auf dem Weg zur Eisenbahnstation stirbt der alte Andres Kinzel und wird auf dem Hügel in Dorfnähe begraben. Seine Schwiegertochter Gret bringt zur gleichen Zeit ein Kind zur Welt, das zu Ehren des Verstorbenen den Vornamen Andreas bekommt – im ersten russischen Dorf wird er als „Andrej“ eingetragen. „Der rundbackige Andreas-Andrej wird heranwachsen und dereinst als Mann auch in dem fernen Sibirien alles überwinden und sich somit seines toten Großvaters und seiner wackeren Landsleute würdig erweisen“, ist bei Victor Klein nachzulesen.

Als verbindendes Element all dieser Abschnitte der wolgadeutschen Geschichte spielt die Holzkiste, im wolgadeutschen Sprachgebrach die Kist‘, als Symbol der vielen Wanderwege der Wolgadeutschen eine zentrale Rolle auf der Bühne. Bei allen Wanderungen gehörte das Wertvollste in die Kiste, fast immer war es die Bibel. In Warkentins Aufführung ist es der ideelle Schatz: die alten Bücher und Werke, die die wechselvolle und bewegende Geschichte der Wolgadeutschen dokumentieren und bis heute das historische Gedächtnis der russlanddeutschen Volksgruppe prägen, auch wenn die Werke als solche der breiten Masse eher unbekannt geblieben sind.

Neben der Wanderkiste und den alten Büchern gehört die berüchtigte „Fufaika“ (Steppjacke aus der Zeit der Zwangsarbeit und noch viele Jahre danach), ein einfacher Tisch mit Hockern oder ein Plakat „Es lebe die Autonomie“ zum „Inventar“ der Bühne. Auf der Bühne wird aus den oben erwähnten sechs Werken zitiert und rezitiert, gesungen und gespielt; historische Ereignisse werden mit knapper Bühnenausstattung und dennoch emotional nachvollziehbar und künstlerisch eindrucksvoll vermittelt. So taucht man in die Vergangenheit ein, die unzertrennlich auch zur Gegenwart jeder russlanddeutschen Familie gehört.

Nina Paulsen, VadW

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