Es gibt nichts Unzuverlässigeres als Zeugenaussagen. Sagen Richter. Und die müssen es ja wissen. Zudem lässt sich der Konstruktivismus allzu leicht nachweisen. Fragen Sie doch mal ein Ehepaar nach dem letzten gemeinsamen Urlaub. Da hat jeder was anderes erlebt. Wenn es um Erinnerungen geht, kann man niemandem trauen, nicht mal sich selbst. Wie ich jetzt wieder einsehen musste.

Dafür, dass ich denke, dass ich nicht so gut Schach spiele, spiele ich gar nicht mal so schlecht Schach, meine ich, wenn ich die vergangenen Partien im Internetschachportal Revue passieren lasse. Da fallen mir besonders gern die überraschenden Siege ein. Na gut, ab und zu ist auch mal eine Niederlage dazwischen. Aber nur knapp, versteht sich. Und natürlich gegen wesentlich stärkere Spieler, gegen die ich eh keine Chance hatte. Aber alles in allem bin ich erstaunlich gut. Tja, ich kann mir das auch nicht erklären. Da scheint wohl ein Naturtalent unterwegs zu sein. Weit gefehlt!

Um meinen Vermieter zu überzeugen, dass ich selbstverständlich nicht immer nur meine Siege herauskehre und haushoch feiere, sondern auch von den Niederlagen berichten würde, würde es sie denn geben, habe ich mal im Portal nachgeschaut. Ein unbedarfter Blick und Klick in die Spielerstatistik sollte Aufschluss geben. Jetzt, da es ans Eingemachte ging, versuchte ich noch mal, mein Hirn auf eine ehrliche Erinnerung zu drängen, wie die Spiele verlaufen sind. Nichts. Blank und leer mein Hirn. Erschreckend leer. Sollte es etwa so sein, dass, wenn wir die Wünsche und Fantasien weglassen, im Prinzip fast nichts im Kopf zu finden ist?!

Bei der Frage, wie viele Spiele es wohl bislang gewesen sein mögen, tat sich die zweite Leere auf. Zehn? 100? Ehrlich, keine Ahnung! Alles in allem nur 22 Spiele. Aha? Ich hatte mich schon gegenüber meinem Umfeld als Internetschachjunkie bekannt, ständig mit der Nase auf dem Schlachtfeld, also Schachbrett. Tag und Nacht, vor, während und nach den Mahlzeiten, manchmal auch stattdessen. Aber bei nur 22 Partien muss ich noch keine Selbsthilfegruppe aufsuchen. Und dann, oh weh, fällt die Statistik recht schlecht für mich aus. Nur sechs Siege und ganze 16! Niederlagen, steht da schwarz auf weiß. Huch! Ja, wo kommen die denn her? Gegen wen und wann und wie? Das Hirn: Bleibt hoffnungslos leer. Vielleicht klappt es mit den Siegen besser. So was merkt man sich ja gern. Aber auch hier: Kein Fitzelchen Erinnerung.
Das bestätigt mehrere äußerst unangenehme Annahmen: 1. Dass ich eine notorische Angeberin bin. 2. Dass ich gar nicht gut Schach spiele. 3. Dass die Erinnerung mit einem macht, was sie will beziehungsweise ohne Wunschbilder kaum existiert. 4. Über Dreisatz ausgerechnet: Wenn diese Gesetze auch in anderen Sphären gelten und ich keine so gute Schachspielerin bin wie ich denke, dann bin ich wahrscheinlich auch in anderen Bereichen nicht so gut wie ich denke. Uiui, darüber denke ich mal lieber nicht weiter nach, sondern bleibe gefühlt die Schachkönigin von Lövenich und schnippe gleich mal wieder in die Partie, die ich hier nebenbei bestreite, um meinen nächsten Sieg einzutüten. Egal wie das Spiel ausfällt, ich gewinne sowieso, en garde!

Julia Siebert

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