Ein Interview mit Irina Matvienko, Gründerin des Projekts gegen Gewalt in Usbekistan Nemolchi.uz.

Irina, womit hat Ihr Einsatz für Frauenrechte begonnen?

Die Arbeit hat vor allem mit dem Projekt NeMolchi.uz begonnen. Eigentlich war ich immer sozial aktiv. 2011 habe ich „Ladoshki.uz“ gestartet – ein Projekt für Handmade in Usbekistan. Später habe ich im Rahmen desselben Projekts eine Initiative organisiert, um Kindern mit Blutkrebs und akuter Leukämie zu helfen. Wir haben Geld durch den Verkauf der Handmade-Produkte gesammelt und dafür Medikamente für Kinder gekauft.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, NeMolchi.uz zu starten? Welche Ziele verfolgt dieses Projekt?

Ich habe das NeMolchi.uz-Projekt am 15. Juli 2017 gestartet. Die Idee, ein Projekt mit diesem Namen zu gründen, wuchs lange. Erst entstand einfach ein Name, ich hatte jedoch anfangs keine klare Vorstellung, worum es beim Projekt gehen sollte. Klar war für mich aber, dass es eine soziale Richtung haben sollte. 2016 wechselte unsere Regierung und man begann, verschiedene Themen anzusprechen und zu diskutieren – darunter auch die Gewalt gegen Frauen. Tatsächlich sah es aber so aus: einmal im Monat diskutierte man etwas, empörte sich und vergaß es bis zum nächsten Vorfall. Da begann ich bereits zu verstehen, dass es notwendig ist, genau solche Themen zu erörtern – über die man immer noch Angst hat zu sprechen.

In den ersten sechs Monaten habe ich die neu eröffnete Facebook-Seite anonym betreut, weil wir ein schwieriges „Erbe“ haben: wenn man unangenehme Themen ansprach, konnte man einige Probleme haben. Ich hatte Angst zu sagen, dass dies mein Projekt war, weil es bei diesem Thema noch keine vollständige Transparenz gab. Ich machte mir Sorgen um meine Sicherheit.

Im Internet fand ich einige Geschichten, äußerte meine Meinung, veröffentlichte einige Lehrartikel, sprach mit verschiedenen Leuten, diskutierte in Kommentaren usw. Ende Januar/Anfang Februar 2018 wurde das Problem der Gewalt gegen Frauen wahrscheinlich zum ersten Mal auf staatlicher Ebene angesprochen. Der Präsident kritisierte den Frauenausschuss dafür, dass seine Arbeit auf diesem Gebiet unwirksam sei. Und sofort begannen einige Maßnahmen.

Irina Matvienko

Der Präsident sagt etwas und plötzlich wird man aufmerksam auf das Problem. Als wäre es vorher nicht zu spüren gewesen. Trotzdem war das ein Fortschritt. Ich hatte das Gefühl, dass das Thema auf offizieller Ebene angekommen war. Deshalb wagte ich ein Jahr später ein „Coming Out“ und bekannte, dass ich hinter dem Projekt stehe. Da war es schon bekannt. Bis jetzt ist es eher eine Informationsplattform. Das Ziel des Projekts ist es, Leser aufzuklären und das Thema Gewalt anzusprechen. Denn ich bin sicher: Um ein Problem zu erkennen, muss man zuerst darüber sprechen und darauf aufmerksam machen. Manchmal dauert es sehr lange.

Gibt es Beispiele für die Interaktion des Projekts mit dem staatlichen Sektor oder mit ähnlichen Projekten? Oder gibt es solche Pläne für die Zukunft?

Bislang gibt es leider keine Beispiele dafür. Als Tanzilya Narbayeva das Frauenkomitee leitete und dann Vorsitzende des Senats wurde, half sie bei der Lösung einiger Fälle. Aber das ist nun allmählich schon vorbei. Ich habe den Eindruck, dass die Behörden nicht mit uns zusammenarbeiten: sie meiden nicht nur den Kontakt, sondern ignorieren uns gänzlich. Man organisiert zum Beispiel Treffen zum Thema Gewalt gegen Frauen, aber ich erfahre darüber nur aus den Medien. Journalisten oder andere Organisationen werden eingeladen, aber unser Projekt, das sich gezielt damit befasst, wird links liegen gelassen. Vorher hatte ich noch Zweifel daran, aber jetzt kann ich offiziell sagen: der Staat ignoriert NeMolchi.uz, als ob es nicht existiert.

Ich kann immer noch nicht sicher sagen, ob es in Zukunft gemeinsame Projekte geben wird. Ich bin mir sicher, dass es dem Staat nicht gefällt, welche Themen wir ansprechen und wie, weil sie unangenehm für ihn sind. So verstecken sich viele, die Gewalt gegen Frauen begehen, hinter den nationalen Werten, die der Staat fördert.

Ein weiteres Problem sind Zwangsehen. Eltern treffen die Entscheidung, wann und wen ihre Kinder heiraten sollen. Unser Projekt ist damit nicht einverstanden. Ich bin für die freie Wahl von Menschen, die selbst eine Familie gründen. Erwachsene sollten sich überhaupt nicht in diesen Prozess einmischen. Sie können Ratschläge geben, aber sich kennenlernen, wählen, leben usw. – diese Entscheidung sollten die Jugendlichen selbst treffen.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Politik der Versöhnung von Ehepartnern bei Scheidungen. Die Scheidungsrate in unserem Land wächst, deswegen soll die Versöhnungsfrist, die in den Familienkodex aufgenommen wurde, diese Rate sinken lassen. Wenn zwei Erwachsene beschließen, die Scheidung zu beantragen, aber gemeinsame Kinder haben, hat das Gericht das Recht, ihnen sechs Monate Zeit für die Versöhnung zu geben – und in den meisten Fällen tut es genau das. Außerdem informiert das Gericht die Versöhnungskommissionen der Mahallas (ein Stadtviertel mit institutionalisierter Selbstverwaltung) am Wohnort des Ehepaars, so dass auch sie einige Maßnahmen ergreifen. Das heißt, der Staat greift ein, wenn Erwachsene beschließen, sich zu scheiden. Niemand hat das Recht, die Scheidung zu verzögern und sich noch mehr in die Entscheidung der Ehegatten einzumischen. Auch hier steht die Position des Projekts im Widerspruch zur Staatspolitik.

Was den Schutz der Frauenrechte betrifft, kann ich sagen, dass er weitgehend nominal ist. Das System funktioniert insgesamt schlecht, man will keine Änderungen. Wenn man sich ändern wollte, würde man auf Kritik hören, in eine Art Dialog eintreten und versuchen, etwas zu verbessern.

Ich bin persönlich offen für Zusammenarbeit und habe dies nie abgelehnt, aber Zusammenarbeit meint auch gegenseitiges Einverständnis. Ich sehe keine Resonanz von der anderen Seite. Vielleicht betrachtet man uns als Bedrohung.

Trotzdem möchte ich hinzufügen, dass wir jetzt mit der Abteilung für Frauenangelegenheiten beim Innenministerium der Republik Usbekistan zusammenarbeiten. Sie sind diejenigen, die Schutzanordnungen erlassen. Ich weise sie auf verschiedene Fälle hin, sie delegieren diese an Mitarbeiter in den Distrikten und die erteilen Frauen später Schutzanordnungen. Diese sind zwar selbst kein wirksamer Mechanismus zum Schutz von Frauen vor Gewalt geworden, aber das ist eine andere Sache.

Wie beurteilen Sie im Allgemeinen die Position von Frauen in der usbekischen Gesellschaft? Gibt es positive Veränderungen?

Es scheint mir, dass es positive Veränderungen in der Gesellschaft gibt. Aber ich sehe sie nicht in dem Ausmaß, wie wir es möchten oder wie unsere Regierung erklärt. Ich sehe, dass sich durch die Arbeit in dem Projekt die Meinung der Menschen ändert – zumindest dank der Community, die uns liest. Vielleicht werden wir nur von Menschen gefunden, die dieselben Werte teilen. Trotzdem zeigt sich, dass wir nicht allein sind, und dass ein Bewusstsein für den Wert der Persönlichkeit entsteht.

Es gibt immer noch viele Stereotypen, insbesondere im usbekischsprachigen Umfeld, in traditionellen Familien. Dazu gehört etwa die Vorstellung, dass der Hauptzweck einer Frau darin besteht, zu heiraten, Mutter zu werden und einen Haushalt zu führen. Bisher sehe ich hier keine großen Veränderungen. Das zeigt sich auch in TV-Serien und bei den Themen, die im nationalen Fernsehen diskutiert werden. Es gibt Talkshows, in denen Frauen von Gewalt gegen sich berichten, woraufhin sie von älteren Frauen – aus dem sogenannten „Beirat von Schwiegermüttern“ – verurteilt und beschuldigt werden – das sogenannte „victim blaming“.

Generell sehe ich positive Veränderungen, aber die Stellung der Frau in der usbekischen Gesellschaft lässt immer noch viel zu wünschen übrig. Natürlich gibt es Frauen, die in ihrer Umgebung Männern gleichgestellt sein können. Ich persönlich kann mich zu solchen Frauen zählen: ich werde weder von meinem Mann noch meinen Arbeitskollegen diskriminiert. Gleichzeitig verstehe ich, dass nicht alle Frauen das von sich behaupten können. Und vielleicht genau wegen meiner vorteilhaften Lebenssituation sehe ich für mich die Möglichkeit, anderen Frauen zu erklären, dass auch sie das Recht auf ein solches Leben haben.

Im September 2019 verabschiedete Usbekistan das Gesetz zum Schutz von Frauen vor Unterdrückung und Gewalt. Wie beurteilen Sie dieses Gesetz, welche Vor- und Nachteile hat es?

Wir haben dieses Gesetz mit Begeisterung aufgenommen. Es war ein Fortschritt, ein wichtiger Durchbruch in der Gesellschaft. Aber nach fast einem Jahr kann man nun beurteilen, ob dieses Gesetz zu einem wirksamen Mechanismus zum Schutz von Frauen vor Gewalt geworden ist. Und ich kann sagen – nein, das ist es nicht. Zumindest aktuell funktioniert das Gesetz nur nominell, da es immer noch Gewalt gegen Frauen gibt. Das Gesetz schützt sie auch in keiner Weise vor Belästigung auf der Straße. Wir haben einen Mechanismus zum Schutz vor sexueller Belästigung bei der Arbeit, der zuvor im Arbeitsgesetzbuch festgelegt wurde.

Anfang Juli veranstalteten mehrere usbekische Frauen einen Flashmob gegen Sexismus und häusliche Gewalt und posteten Fotos mit selbstgemachten Postern im Internet. Die Aktion der Mädchen war eine logische Fortsetzung der Debatte im Medienraum zum Thema Gleichstellung der Geschlechter in der Republik, die durch den Vorfall mit Evelina in Fergana ausgelöst wurde. Ein Mann hatte sie im Park verprügelt, weil sie Shorts trug. Was ist Ihre Meinung zu dieser Aktion? Was signalisieren dieser Flashmob und die Reaktion darauf?

Der Flashmob wurde von mehreren Mädchen aus einem Kunstprojekt namens Exponaut ins Leben gerufen. Wie viele von uns waren sie empört über das, was mit Evelina in Fergana passiert war. Und so entschieden sie sich, ihre bürgerliche Position auszudrücken. Ich finde es sehr cool und unterstütze sie voll und ganz.

Als wir Evelinas Geschichte selbst veröffentlichten, schwappten die Reaktionen über: Frauen begannen, ihre Geschichten über Belästigungen auf der Straße usw. zu teilen. Auch in diesem Fall wurde Evelina beschuldigt, und den Mädchen wurde gesagt, dass sie selbst schuld seien. Aber auf unserer Seite hat man sie meistens unterstützt. Ich denke, dass der Schwall an Informationen über das Ausmaß von Belästigung in unserer Gesellschaft viele junge Frauen veranlasst hat, eine Aktion wie Exponaut durchzuführen.

Die Mädchen schrieben über offensichtliche Probleme, aber viele sahen dies als einen Versuch, traditionelle Werte und die usbekische Gesellschaft zu verändern – obwohl die Mädchen nicht auf irgendwelche Anweisungen handelten.

Ich habe, ehrlich gesagt, nichts anderes erwartet. Menschen, deren einziger Wert ihre Mentalität ist, sehen alles als Bedrohung für diesen einzelnen Wert. Alles, was außerhalb dieser engen Welt geschieht, wird als Angriff auf diese Welt wahrgenommen. Das zeugt von der engen Sichtweise solcher Menschen.

Tatsächlich richtete sich dieser Flashmob aber nicht gegen die Religion, da auch muslimische Frauen selbst begannen, sich für ihre Ansichten und Werte einzusetzen. Ich finde es gut, dass sie auch darüber sprechen, was ihnen wichtig ist – sie haben das Recht darauf. Aber ich weiß, dass es auch muslimische Frauen gibt, die diese Aktion unterstützen. In einem Land zu leben, in dem es Belästigungen gibt, unabhängig davon, welche Nationalität man hat, was man trägt, und gleichzeitig so zu tun, als ob einem so etwas nicht passiere – das ist eine Art offene Blindheit. Daher ist es sehr gut, dass es diese starken Reaktionen gab. Viele Leute, sogar ausländische Massenmedien, haben darüber geschrieben. Jetzt weiß jeder, dass ein bestimmter Teil der usbekischen Frauen eine Stimme und den Mut hat, über die Gewalt gegen sie zu sprechen.

An der Aktion waren hauptsächlich junge Frauen beteiligt, darüber bin ich sehr glücklich. Ich sehe, dass die jüngere Generation bereit ist, sich zu verändern; sie hat Stärke. Ich bin auch froh, dass Männer mitgemacht haben und dem Thema gegenüber nicht gleichgültig sind. Viele Männer sind ja mit der Vorstellung aufgewachsen, dass man Frauen und ihre Rechte respektiert – es ist ganz normal für sie. Sie merken nicht, dass sich irgendwo in der Nähe ein Mann an einem Mädchen abarbeitet oder über es lacht. In ihrer Welt gibt es keine Belästigungen, weil sie selbst auch niemanden belästigen. Doch Aktionen wie Plakatierungen lassen junge Männer daran denken, dass alles unvollkommen ist und Änderungen nötig sind. Vielleicht kann dies für einige von ihnen zu einer Art Auslöser werden – um zu verstehen, dass dies nebenan geschieht und nicht alle Männer wie man selbst erzogen wurden.

Der Flashmob hat gezeigt, dass Frauen belästigt werden, aber keine Angst mehr haben, darüber zu sprechen. Ich bin mir sicher, dass es immer noch Menschen gibt, die Angst haben, darüber zu sprechen. Aber ich bin mehr als überzeugt, dass es Mädchen gibt, denen die Aktion – und generell das Problem der Belästigung – Kraft gegeben hat, ihre Geschichte zu teilen.

Können solche Aktionen zu wirksamen Ergebnissen führen? Lassen sich bereits Veränderungen beobachten?

Man kann zurzeit keine Verschiebungen beobachten, aber die Frage ist gesetzt, und früher oder später wird dies Ergebnisse zeitigen.

Zusätzlich kann ich sagen, dass ich am 26. Juni nach dem Vorfall mit Evelina auf dem speziell erstellten Portal „Mening fikrim“ (change.org) eine Petition gestartet habe. Sie richtet sich gegen die Belästigung von Frauen. Die Petition wurde aber Anfang August von der Kommission abgelehnt. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass „alle Rechte und Interessen von Frauen vollständig durch die Verfassung geschützt“ seien und die Artikel über Beleidigungen und Rowdytum alle Fragen zur Belästigung von Frauen vollständig abdecken.

Wie realistisch ist die Gleichstellung der Geschlechter in Usbekistan und was muss noch getan werden, um den vollständigen Schutz der Rechte der Frauen zu gewährleisten?

Wenn man sich die weltweite Statistik anschaut, gibt es Geschlechtergleichheit in keinem Land der Welt, nicht einmal in den skandinavischen Ländern, die als Vorbild gelten. Daher ist es schwierig, für Usbekistan zu sprechen.

Es gibt verschiedene Empfehlungen, was man dafür tun sollte, damit sich Frauen in Usbekistan unter dem Schutz des Staates fühlen können:

– Verschärfung der Gesetze wegen Verstoßes gegen die Schutzverordnung und in Bezug auf Vergewaltiger, bis hin zur Beschlagnahme von Eigentum des Mannes (sowie seiner Verwandten) und dessen Übergabe an Frau und Kinder. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass viele Menschen Immobilien bei ihren Verwandten registrieren, so dass bei der Scheidung der Schwiegertochter nichts mehr übrig bleibt. Es sind die Kriminellen, die befürchten sollten, dass sie bei Anwendung von Gewalt alles verlieren. Nicht die Opfer sollten sich Sorgen um ihre Zukunft machen und stillhalten, um nicht auf der Straße zu bleiben.

– Übertragung von Straftaten gegen Frauen aus der Kategorie der privaten Strafverfolgung (wenn der Fall nur auf Antrag des Opfers eingeleitet wird) in die Kategorie der öffentlichen Strafverfolgung (wenn der Fall aufgrund der Tatsache der Straftat eingeleitet wird, unabhängig vom Vorliegen einer Erklärung des Opfers).

– Aufzuhören, sich mit den Angreifern zu versöhnen. Man lehrt Kinder, die in solchen Familien leben, dass man Gewalt ertragen müsse, um die Illusion von Frieden in der Familie zu schaffen; oder dass man einander wehtun kann und dafür keine Verantwortung tragen müsse. Man kann und soll eine toxische Beziehung hinterlassen. Persönlicher Wert ist wichtiger als Statistiken mit schönen Zahlen. Eine Familie, in der Gewalt und Heuchelei gedeihen, ist keine Familie!

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Esmira Saudkasova.

Dieser Beitrag ist Teil eines Projekts, das vom Institut für Auslandsbeziehungen e. V. aus Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
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