Der deutsche Ethnologe Philipp Jäger lebt seit September 2007 bei einer kasachischen Gastfamilie. Er lernt dort Kasachisch und kommt direkt mit den kasachischen Sitten und Bräuchen in Kontakt. Für die DAZ berichtet er über eine Hochzeit in seiner Familie. Das traditionelle kasachische Hochzeitsritual besteht aus drei großen Festen. Sechs Wochen nach dem „Kelin-Fest“, mit dem die Ankunft der Braut in der Familie des Bräutigams gefeiert wurde, war Jäger jetzt zur eigentlichen Hochzeitsfeier eingeladen – zusammen mit 200 anderen Gästen.
/Foto: Philipp Jäger/

Fast täglich sah ich in den letzten Wochen den Bräutigam Jergali und seine sieben erwachsenen Geschwister im Kreis sitzen und sich beratschlagen. Es mussten der Ablauf des Hochzeitsfestes bestimmt, Vorräte eingekauft und die Tafel vorbereitet werden. Als ich drei Tage vor der Hochzeit nichts ahnend nach dem Abendessen die Küche betrat, um mir am einzigen Waschbecken des Bauernhauses die Zähne zu putzen, blickten mich die Augen eines auf dem Boden liegenden, abgetrennten Pferdekopfes an. Jergali und seine Brüder waren gerade dabei, das frisch geschlachtete Tier auf Planen am Boden für die Hochzeitstafel zu zerteilen. Ich entschloss mich binnen Sekunden, an diesem Abend auf meine Körperpflege zu verzichten und ging hinaus, während mir Jergalis Mutter etwas hinterherrief, das ich als „Na, so was gibt’s wohl bei euch nicht“, interpretierte.

Im Hochzeitskonvoi zum Standesamt

Als ich am Hochzeitstag gegen halb neun erwachte, war das Geschehen um mich herum bereits voll im Gange. Die Braut Dschasira zog sich mit ihren engsten Freundinnen in ihr Zimmer zurück, um sich zurechtzumachen. Den Bräutigam Jergali sah ich den ganzen Morgen mit dem Mobiltelefon am Ohr durch das Haus hetzen. Die Brüder Jergalis sind auf dem Hof mit dem Schmücken der Autos beschäftigt.

Ich warte mit den anderen Gästen ungeduldig auf dem Hof, bis das Brautpaar unter Jubelrufen der Anwesenden erscheint. Jergalis Schwestern überschütten das Brautpaar mit Süßigkeiten und schenken Sekt für die Brautleute und die Mutter Jergalis aus. Diese hält eine kurze Ansprache, dann geht es im Konvoi von fünf Wagen zum Standesamt in Talgar bei Almaty.

Standesamt: Erst die Formalitäten, dann der Hochzeitswalzer

Dort angekommen, geht Jergali direkt ins Büro, um die Formalitäten zu erledigen. Nach wenigen Minuten ist es so weit. Unter der auch in Europa üblichen Hochzeitsmusik betreten Braut und Bräutigam, gefolgt von ein paar Dutzend Augen, den Trausaal, wo sie die Trauung offiziell bestätigen – ähnlich wie in Deutschland. Ein Unterschied ist jedoch, dass sich Braut und Bräutigam nicht küssen, aber zusammen unter Applaus der Anwesenden einen Walzer tanzen. Danach drängen sich alle für Erinnerungsfotos um das Brautpaar herum. Es gibt einen Umtrunk aus Plastikbechern, bei dem ich leider den Sekt verpasse, woraufhin mir Arak (Wodka) angeboten wird. Darauf verzichte ich aber lieber. Denn der lange Hochzeitstag hat gerade erst begonnen.

Moschee: Mullah mit Handy

Die nächste Station ist die Moschee in Talgar, die wir gegen eins erreichen. Nach ein paar Minuten ist im Innern ein Tisch hergerichtet, an dem ein Mullah Platz nimmt. Die Gäste werden hineingebeten und setzen sich im Halbkreis um den Tisch, nur das Brautpaar steht davor. Mit dem Eintragen in ein Register beginnt die ca. 10-minütige Zeremonie, die nur einmal unfreiwillig durch das Klingeln des Mobiltelefons von Jergalis Nichte unterbrochen wird. Die älteren Gäste, die sich mit der nicht angemessenen Sitzhaltung der jüngeren unzufrieden zeigen, schütteln empört den Kopf und werfen der hektisch in ihrer Handtasche wühlenden Teenagerin böse Blicke zu. Zuerst spricht Jergali, dann Dschasira Koranferse nach, dann versichern sie sich gegenseitiger Treue, in Formeln, die mit denen im Standesamt identisch sind, nur einen Gottesbezug mit einschließen. Das Ritual findet seinen Abschluss im Trinken des neke su, des Trauwassers, von dem die beiden dreimal aus einer Teeschale nippen. Ironischerweise zückt der Mullah selbst Sekunden nach dem Ende der Zeremonie sein Handy und beginnt noch in der Moschee beim Hinauslaufen zu telefonieren.

Unterwegs in Almaty

Jetzt geht es auf große Tour nach Almaty. Die erste Station unserer Rundfahrt ist das Denkmal Raiymbek-Batyrs, eines großen kasachischen Helden des 18. Jahrhunderts. Eine andere Hochzeitsgesellschaft verlässt das Areal gerade. Wir begeben uns zum dortigen Mullah, der Jergali und Dschasira segnet, da kommen schon die nächsten Brautleute. Es ist Samstag, da haben Hochzeiten Hochkonjunktur. Nach zehn Minuten gehen wir zurück zum Auto und fahren weiter.

Die nächste Station ist das Kriegsdenkmal im Panfilow-Park. Während der begleitende Fotograf das Brautpaar zu den geplanten Aufnahmen instruiert, begeben sich die Gäste zum nächsten Umtrunk. Mir wird wieder Alkohol angeboten, doch mit einem „zhok, zhok, rakhmet“ (nein, nein, danke) lehne ich vehement ab, während ich den Alkoholpegel der Fahrer mit Sorge abzuschätzen versuche. Direkt vor der „Ewigen Flamme“ legen Jergali und Dschasira einen Blumenstrauß nieder „in Erinnerung an die Helden des Großen Vaterländischen Krieges“, wie mir die Familie im Nachhinein erklärt. Sie erläutern, dass dieser sowjetische Brauch heute nicht zwingend ist, aber von fast allen Brautpaaren praktiziert wird. Der Fotograf entschwindet mit dem Brautpaar zum Foto-Shooting, während die unterkühlten Gäste etwas Saft sowie Samsa, fleischgefüllte Teigtaschen, genießen.

Wir brechen auf und fahren zurück nach Talgar, allerdings nicht ohne vorher noch zweimal auf dem Weg zu einer weiteren Essens- und Trinkpause angehalten zu haben. Es ist noch früh, erst am Abend werden wir im Restaurant erwartet, in dem das große Fest stattfinden soll. Als Häppchen gibt es baursak, eine Art kasachisches Brötchen, das im Süden oft handtellergroß und flach ist, sowie abgekochtes Fleisch vom Schaf.

Segenswünsche im Restaurant

Um achtzehn Uhr kommt der Konvoi am gemieteten Restaurant an, dennoch bleibt das Brautpaar im Wagen, denn zuerst werden die bereits in der Aula wartenden Gäste an ihre Plätze geführt. Als alle sitzen, betritt gegen drei viertel sieben das Brautpaar die riesige Restauranthalle. Musik spielt auf, die Gäste klatschen und jubeln, während Jergali und Dschasira sowie ihre Trauzeugen abermals mit Süßigkeiten (shashu) beworfen und an einen gesonderten Tisch geführt werden, der von einem Luftballonbogen eingerahmt wird.
Die Menge bildet einen Kreis um das Brautpaar, als die abysyn, die Schwägerinnen Jergalis, mit einem weißen Schleier (oralman) gekleidet, hereinkommen und Dschasira in die Mitte führen. Das betashar-Ritual, bei dem der Schleier der Braut gelüftet wird, beginnt. Hierzu spielt ein akyn, ein Musikant, mit der Dombra, dem zweisaitigen Instrument das betashar-Lied. Die Profession der akyn ist in Kasachstan hoch anerkannt, bereits zur alten Zeit als die Kasachen noch nomadisierten, waren sie als Barden und Geschichtenerzähler gern gesehene Gäste in den Jurten. Nach dem Lied spricht der akyn Segenswünsche und lüftet der Tradition nach den Schleier mit der Spitze der Dombra.

Ein Moderator an einem Mischpult übernimmt die Führung des Abends und bittet zum Tanz, während die Gäste auf das Essen warten. Die Brüder Jergalis kümmern sich um das Verteilen des Essens. Es gibt als Vorspeise Salate und als Hauptgericht, wie kann es anders sein, beschparmak, das kasachische Nationalgericht, mit Reis und Pferdefleisch.

Nach dem Essen beginnen die ausgedehnten Segenswünsche der Gäste, die stundenlang andauern. Hierbei treten sie nicht einzeln, sondern in verwandtschaftlichen Gruppen auf. Es wird dem Brautpaar alles Gute für die Zukunft gewünscht, vor allem Glück, Gesundheit, Kinderreichtum und Liebe wird herausgestrichen. Manche Gäste lassen es sich auch nicht nehmen und spielen selbst ein Lied auf der Dombra oder singen zu Ehren der Gastgeber. Nach Mitternacht ist die Prozedur beendet, und es wird abermals zum Tanz gebeten. Die Musik reicht von Diskoklassikern über russische Pop-Musik hin zu kasachischen Schlagern.
Den Abschluss des Festes bildet das Verteilen der toi bastar, Geschenke an die gekommenen Gäste, gespendet durch die Familie Jergalis. Die Pakete werden von den neugierigen Gästen rasch geöffnet und der Inhalt, in Form von Mützen, Schals, Tüchern und Hemden an die einzelnen Personen am Tisch verteilt, wobei die besten Stücke den Älteren gebühren.
Um zwei Uhr schließlich, als der Mehrheit der Gäste die Müdigkeit schon ins Gesicht geschrieben ist, werden die letzten Fotos geschossen und die Gesellschaft aufgelöst.

Von Philipp Jäger

15/02/08

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