Ist das Modell der Europäischen Union auch auf Zentralasien übertragbar? Welche Probleme und Herausforderungen könnte es dabei geben? Mit diesen und anderen Fragen setzt sich Dr. Jiri Melich, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf die Europäische Union und Transformationsprozesse in Eurasien, im Interview mit der DAZ auseinander.

Jiri Melich, die Europäische Union (EU) hat den Friedensnobelpreis gewonnen. Denken Sie, das Modell der EU ist auf die zentralasiatischen Staaten übertragbar?

Leider wird man das Modell der EU nur sehr langfristig gesehen auf Zentralasien übertragen können – falls überhaupt. Man muss sich vor Augen führen, dass der Prozess der systematischen Integration in Westeuropa bereits in den 50er Jahren begann und er seitdem ziemlich respektable Fortschritte machte. Die EU hat nicht nur einen Binnenmarkt entwickelt, sondern auch ein hohes Niveau politischer Integration erreicht. Derartige Versuche in anderen Regionen bleiben weit hinter diesem Erfolg zurück, daran wird sich wahrscheinlich auch in den kommenden Jahrzehnten nichts ändern.

Könnten Sie bitte kurz die aktuelle Situation in Zentralasien beschreiben?

Die Auflösung der Sowjetunion hat die zentralasiatischen Länder schwer getroffen. Viele Beziehungen zwischen den Ländern wurden eingestellt, nachdem man sich dazu entschieden hatte, einen eigenen, unabhängigen Weg zu gehen. Eben jener Charakterzug der etablierten Regimes dieser Länder verhinderte eine engere Zusammenarbeit. Die Regimes stehen sich in der Regel sehr misstrauisch gegenüber, was unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass die zentralasiatischen Länder große Schwierigkeiten haben, ihre Energiepolitik oder das Grenzflussmanagement zu koordinieren.

Welche Probleme gibt es in Zentralasien?

Nach der Unabhängigkeit konzentrierten sich die zentralasiatischen Länder mehr auf die Stärkung der eigenen Macht, den Staat und das „Nation-Bulding“ (Aufbau einer Nation) als auf die Pflege nachbarschaftlicher Beziehungen. Da sich die Länder nicht gegenseitig unterstützten, isolierten sich manche Staaten wie Usbekistan oder Turkmenistan, andere (Kirgisistan oder Tadschikistan) verrannten sich in Aufruhren oder Bürgerkriegen, und nur Kasachstan hat es geschafft, auch die Politik der gesamten Region zu fördern. Man muss bedenken, dass auch die ehemalige Imperialmacht Russland immer noch einen erheblichen Einfluss auf die Region ausübt. Für das heutige Russland ist Zentralasien das „nahe Ausland“ – ein Bereich, in dem es einen größeren unmittelbaren Einfluss anstrebt. Daher ist zu erwarten, dass eine mögliche Integration in dieser Region nur unter russischer Vormundschaft stattfindet – und damit ziemlich sicher eine Integration nach europäischem Vorbild ausschließen würde. Wenn die Pläne für die Eurasische Union (zwischen Russland, Kasachstan und Belarus) fortschreiten, wird man sich hier mit den gleichen Problemen auseinandersetzen müssen.

Wie denken Sie, können diese Probleme gelöst werden?

Wie ich vorgeschlagen habe, können Integrationsversuche nach europäischem Vorbild nur langfristig in Betracht gezogen werden. Das EU-Projekt mit dem Bestreben nach Frieden, Wohlstand und Stabilität verlangte von den Mitgliedsstaaten, einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben, und erforderte des Weiteren ein hohes Maß an wirtschaftlicher Solidarität – teilweise auch durch den Transfer von Vermögen von den reicheren zu den ärmeren Mitgliedsländern. Beides kann man von Zentralasien in naher Zukunft nicht erwarten, auch wegen der ständigen Präsenz einer solch asymmetrischen und dominanten Macht wie Russland. Wir wissen, dass eine Bedingung helfen könnte: nämlich ein reiferer demokratischer Prozess – eine Bedingung, welche in Europa existiert, jedoch nicht in dieser Region hier.

Inwiefern könnte mehr Kooperation zwischen den zentralasiatischen Ländern hilfreich sein?

Mehr Kooperation hilft immer. Zum einen, weil es das Vertrauen zwischen den Ländern fördert, und zum anderen, weil es greifbare Vorteile in den Bereichen Handel, Business, Bildung, Wissenschaft und in anderen Bereichen hat – und somit auch im Wirtschaftswachstum der einzelnen beteiligten Länder. Allerdings ist eine Kooperation nur dann gut, wenn die Partner gleichberechtigt sind und sie auf hohen internationalen Standards basiert.

Denken Sie, die EU kann auch etwas von Zentralasien lernen?

Nun, vielleicht nicht im Sinne von Kooperation und Integration: Aber die Völker und Gesellschaften Zentralasiens haben auf jeden Fall viel zu bieten, schauen Sie nur mal auf das reiche historische und kulturelle Erbe. Die Europäer sollten sich auch mehr darum bemühen, Zentralasien und seine schwierige Transformation zu verstehen. Sie sollten hier nicht nur die Stereotypen von Steppe, Öl und Borat sehen, sondern vor allem die gastfreundlichen, talentierten und lernwilligen Menschen.

Wo sehen Sie die Staaten Zentralasiens in der Zukunft?

Ich bin ein vorsichtiger Optimist: Hoffentlich werden sie dazu imstande sein, Schritt für Schritt das Leben ihrer Einwohner zu verbessern und einen Beitrag zu globaler Stabilität, Wohlstand und Frieden zu leisten. Weniger optimistisch bin ich hingegen im Hinblick auf ein höheres Niveau der regionalen Integration in einem kurz- bis langfristigen Zeitraum. Als Schüler der Weltgeschichte sind wir uns bewusst, dass jede Vorhersage für mehr als zehn bis 15 Jahre reiner Fiktion gleichkäme. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass die EU steigendes Interesse an der Kooperation mit Zentralasien zeigt, besonders im Hinblick auf deren Energieressourcen – vor allem diese Tatsache wird voraussichtlich die gegenseitige Beziehung in den kommenden Jahren gestalten.

Interview von Christine Faget

Dr. Jiri S. Melich (von der Carleton Universität in Kanada) lehrt an der Fakultät für Politikwissenschaften & Internationale Beziehungen der KIMEP-Universität in Almaty. Seinen Forschungsschwerpunkt bilden dabei die Transformations- und Integrationsprozesse im postkommunistischen Eurasien und die Europäische Union.

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