Im Süden Kasachstans machen Archäologen einen spektakulären Fund. Sie legen einen Komplex frei, der Aufschluss über das Leben eines urislamischen Ordens gibt – der wiederum vorislamischen, zentralasiatischen Ritualen frönt.

Kultobe ist eine altertümliche befestigte Siedlung, die auf halbem Wege zwischen Schymkent und Qysylorda in der südkasachischen Provinz Turkestan liegt. Auf dem Gebiet der gleichnamigen Provinzhauptstadt, doch weit entfernt von der südlichen Metropole Almaty, und noch weiter von der Landeshauptstadt Nur-Sultan. Für kasachische Archäologen und Altertumsforscher allerdings ist die Stätte nicht von peripherer, sondern von zentraler Bedeutung. Denn zu Zeiten der Großen Seidenstraße war sie ein Mittelpunkt für Kultur, Religion und Handel. Auf dem Gebiet der Siedlung gruben Experten archäologische Überreste aus gleich vier wichtigen historischen Epochen Kasachstans aus.

Das Ausgrabungsgelände am Rande von Turkestan

Die Bedeutung Kultobes für die Rekonstruktion kasachischer Vergangenheit zeigt auch ein neuer Fund, den Forscher als „sensationell“ bezeichnen. Ein Team von Wissenschaftlern des Kasachischen Forschungsinstituts für Kultur stieß bei Ausgrabungen auf eine Tekke – eine Art Kloster der Sufi-Bruderschaft. Der Sufismus steht innerhalb des Islams für eine uralte Glaubensrichtung mit besonders asketischen Tendenzen, angelehnt an die sunnitische Konfession. „Sufi“ oder „Derwische“, Praktizierende der Glaubensrichtung, leben ein Leben in Entsagung und Bescheidenheit und meistern Prüfungen, um so Gott näher zu kommen.

Bislang in der Region kaum erforscht

Tekken, wie sie nun auf dem Stadtgebiet von Turkestan gefunden wurden, waren ursprünglich schlichte Herbergen für die Derwische. Später aber entwickelten sie sich teils zu ausgeklügelten Komplexen mit funktionaler Ausdifferenzierung. Sie dienten als Orte für politische und gesellschaftliche Versammlungen, als Schulen, Beherbergungsorte und Krankenhäuser. Oft zählten auch Bibliotheken, Mausoleen und ein Gebetsort dazu.

Doch was macht den Fund, den das kasachische Forschungszentrum am vergangenen Donnerstag verkündete, für die Archäologen so spektakulär? „Die Tekke von Kultobe ist ein einzigartiges Monument für die Kult- und Begräbnisarchitektur des 15. bis 19. Jahrhunderts“, heißt es in einer Mitteilung des Instituts vom vergangenen Donnerstag. Neben Resten des Anwesens und seiner rituellen Stätten sei nun auch eine Gruft mit Gräbern von Angehörigen des Ordens zugänglich. Bislang sind solche Stätten laut Angaben der Wissenschaftler in der Region kaum erforscht. Demnach existieren lediglich zwei kasachische Tekken, ebenfalls im Süden des Landes.

Der Kult der Heiligen Gräber

Zwar sind die beiden bisherigen Fundstätten größer als die aktuelle in Kultobe. Für Andrej Khazbulatow, Forschungsberater im Rahmen des zuständigen Projekts, ist die neue Entdeckung aber „eine der interessantesten Konstruktionen des Altertums, die einen Bezug zum Yasawi-Orden haben“. Ahmad Yasawi war ein Poet, der bereits im 11. Jahrhundert wirkte und in dieser Zeit den ersten Sufi-Order auf turksprachigem Gebiet gründete. Es gebe unwiderlegbare Beweise für eine Verbindung der Tekke zu besagtem Orden: die unmittelbare Nähe zum Mausoleum Yasawis in 300 Metern Entfernung. Die Ausrichtung der Beerdigten mit dem Kopf gen Norden, wo sich das Mausoleum befindet. „Jeder weiß, dass der wichtigste Unterschied zwischen dem Sufismus und dem orthodoxen Islam im Kult der Heiligen Gräber besteht“, so der Wissenschaftler.

Mitarbeiter des Instituts legen den Fund frei.

„Der Kult der Heiligen Gräber steht für die Existenz zahlreicher zentralasiatischer Tekken, wo entweder der Gründer der Gemeinschaft oder ein besonders geehrtes Mitglied des Sufi-Ordens begraben liegen“, so Khazbulatow. Gleichwohl weise der Heiligenkult auf Überbleibsel des vorislamischen Glaubens in Zentralasien hin: die Vorstellungen der Ureinwohner Kasachstans, die sich am Kult der Vorfahren oder des Clangründers orientierten.

„Perle“ des Freiluft-Archäologie-Projekts

Konkret handelt es sich bei dem Fund von Kultobe um einen Komplex aus zehn Räumen mit Ofenheizung. Im südöstlichen Teil der Anlage befindet sich ein rechteckiges Mausoleum mit einer unterirdischen Gruft, in der sieben Begräbnisstätten angelegt waren. Vom Mausoleum ausgehend wurden drei Gänge freigelegt – im Süden, Norden und Osten. Westlich kamen entlang einer Mauer acht kleine zellenartige Zimmer zum Vorschein, die sich in einer Linie von Süd nach Nord erstreckten. Im nordwestlichen Teil des Grundstücks befand sich ein Bereich, der offensichtlich für Haushaltsangelegenheiten und Gruppenrituale vorgesehen war.

Kulturwissenschaftlerin Zhanyerke Shaigozova, die als Forschungsassistentin an dem Fund beteiligt war, sieht dessen Bedeutung in einer Linie mit der des kreuzförmigen Kangju-Tempels aus dem ersten bis zweiten Jahrhunderts. Die Kangju herrschten in jener Zeit über ein zentralasiatisches Imperium, das vom Aralsee bis zum Tienshan reichte. „Die Tekke wird definitiv, gemeinsam mit dem Kangju-Tempel, zu den ‚Perlen‘ der künftigen Freiluft-Archäologie-Anlage ‚Kultobe Settlement‘ gehören.“ Die neuen Erkenntnisse ermöglichten nicht nur eine bessere archäologische Erschließung der Sufi-Kultur. Sie gewährten auch einen tieferen Einblick in das Wirken der Diener des Yasawi-Ordens.

Die Wissenschaftlerin bezieht sich mit „Kultobe Settlement“ auf das Projekt “Wiederherstellung historischer Stätten der Kultobe-Siedlung“. Dieses wird von der Eurasian Resources Group (ERG) finanziell unterstützt und ist auf drei Jahre angelegt. Immer wieder stoßen Forscher an der ältesten archäologischen Stätte der Provinz auf kostbare Relikte. So zuletzt im Juli, als 150 Jahre alte Schmuckgegenstände ausgegraben werden konnten. Die Funde qualifizierte das Kasachische Forschungsinstitut für Kultur als „unwiderlegbaren Beweis für das professionelle Niveau der Herstellung von Schmuckgütern in der Region, die auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblickt“.

Christoph Strauch

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