Ein Gespräch mit der Direktorin des Soros-Zentrums für zeitgenössische Kunst (SCCA), Valeria Ibrajewa, über die Kontinuität des Sowjetischen in der kasachstanischen Kultur und über die unabhängige Kunstszene des Landes

DAZ: In seinem kürzlich erschienenen Buch „Caravan Cafe“ schreibt der italienische Kunstkritiker und Journalist Enrico Mascelloni, dass sich die visuelle Kultur Zentralasiens während der letzten Jahre stark gewandelt habe. Trifft das auch auf Kasachstan zu?

Valeria Ibrajewa: Man muss das zunächst historisch sehen, denke ich. Bis zum Beginn der Sowjetmacht hat es in Kasachstan eine Kunst im westlichen Sinne – also Malerei, Grafik und Skulptur – gar nicht gegeben. In Tadschikistan und Usbekistan war das ganz anders, hier war die visuelle Kultur schon recht weit entwickelt. Aber es stimmt, dass sich Veränderungen abzeichnen. Wenn sie auch noch einen langen Zeitraum für sich beanspruchen, um überhaupt bemerkt zu werden.

DAZ: Warum – sind die Prozesse so schwerfällig?

Ibrajewa: Es liegt vor allem an der Kontinuität des Sowjetischen in der bildenden Kunst. Die Prinzipien des Sozialistischen Realismus halten sich auch heute noch durch. Die Kunst Kasachstans begann ja erst mit dem Export der Sowjetkultur – also mit jenen Bildern einer virtuellen glücklichen Welt, die dem Sozialistischen Realismus verpflichtet waren. 1938 etwa tauchten plötzlich diese festlich gedeckten Tafeln auf, mit viel Obst, Früchten und vielen glücklichen Menschen, die auf ihren Kolchosen feierten. In Kasachstan hatte das die Sesshaftmachung der Nomadenkultur zum Hintergrund und eine schreckliche Hungersnot, die die Bilder nicht zeigten. Stattdessen zeigten sie das virtuelle Glück.

DAZ: Worin besteht die Kontinuität des Sowjetischen in der zeitgenössischen Kunst Kasachstans?

Ibrajewa: Im Illusionismus und in dem Prinzip der Wiederholung. Jedes Jahr wird in Kasachstan irgendein neues, volkstümliches Denkmal aufgestellt – über Heroen der Vergangenheit und über diverse Schlachten. Die Bildung einer großen, virtuellen Vergangenheit, eines kasachischen Mythos, einer eigenen nationalen Identität verläuft paradoxerweise nach sowjetischem Muster. Vom Stil her werden die alten Schemen des Monumentalen beibehalten – wenn wir einmal absehen von einer kleinen Änderung, die es zwischen der kasachstanischen und der sowjetischen Bilderkultur inzwischen tatsächlich gibt. Heute wird geradezu das nomadische Bewusstsein noch unterstrichen dadurch, dass jede Stadt ihren eigenen Helden und ihren eigenen Khan hat. Diese Ortlosigkeit und Beweglichkeit in der offiziellen Gedächtniskultur macht man sich kaum bewusst. (lacht)

DAZ: Immerhin sucht man nun zum ersten Mal nach einem eigenen Zugang zur Geschichte. Ist das nicht auch positiv?

Ibrajewa: Ja, ohne Frage ist das geschichtliche Interesse positiv zu bewerten. Denn zum ersten Mal seit vielen Jahren wendet sich der Staat einer Geschichte zu, die vorher verboten war. Hier gibt es viele positive Momente. Aber: Alles passiert auf alten, sowjetischen Wegen. Früher die Bildung einer virtuellen glücklichen Welt, heute die Bildung eines glücklichen goldenen Jahrhunderts der Vergangenheit. Und das nur in der einen offiziellen Richtung. Nehmen wir die Skulptur Solotaja Bita von Saken Narynow, die in Atyrau stand, aber wieder durch eine zugänglichere ersetzt wurde, weil sie zu verspielt, zu mehrschichtig war. Es ist dies die alte Sowjetmentalität, die neue Formen nicht gelten lässt. Aber die Kultur muss vielfältig sein, es muss in ihr sowohl traditionelle als auch avantgardistische Momente geben.

DAZ: Die Kunstszene Almatys zählt zu den lebendigsten in ganz Zentralasien. Gibt es nennenswerte Ansätze einer eigenen Kunst?

Ibrajewa: Natürlich gibt es verbunden mit einer relativen Liberalisierung und der Unabhängigkeit einen besseren Zugang zur Information. Es existieren künstlerische Bestrebungen von Leuten, die abweichen von der Generallinie. 1997 haben wir den Grundstein gelegt für dieses Zentrum für zeitgenössische Kunst. Damals hieß es noch nicht so, aber es gab Räume, in denen diskutiert werden konnte, es gab Zeitschriften und man war auf der Suche nach unkonventionellen Ausdrucksmöglichkeiten. Ein Jahr später folgte dann die offizielle Eröffnung. Wir haben Bücher in Koffern angeschafft, und unser Archiv versammelt wichtige Beiträge der Videokunst Zentralasiens. Doch 150 Leute, die mehr oder weniger involviert waren in diesem Zentrum, ist in einem Land, das 15 Millionen Menschen zählt, sehr wenig. Zu wenig. Trotzdem haben wir in dem Kampf zwischen Traditionalisten und Anhängern der zeitgenössischen Kunst auch ein paar Menschen von der Notwendigkeit einer neuen Kunstsprache überzeugen können.

DAZ: Wie schätzen Sie die Entwicklungen der nächsten Jahre ein?

Ibrajewa: Derzeit gibt es faktisch keine jungen Künstler. Junge Leute mit Abschluss an der künstlerischen Akademie gehen in die Werbung. Wir werden ein Land ohne Künstler – eine

Kultur werden wir erst in 200 Jahren haben. Die drei Generationen – die Generation Abais, die nur durch russische Kolonialisierung entstehen konnte, die Sowjetzeit und die neue Unabhängigkeit, die vielfach das Alte durchzieht, reichen nicht zur Begründung einer eigenen, gewachsenen Kultur. Das muss reifen und nimmt viel mehr Zeit in Anspruch. Gegenwärtig sehe ich keinen normalen Blick auf die Kultur. Der Blick ist sowjetisch. Die Kultur ist das System, das der Macht dient.

DAZ: Gilt das auch für das staatliche Förderprogramm „Kulturelles Erbe“, gewissermaßen dem kulturpolitischen Aushängeschild Kasachstans?

Ibrajewa: Die Idee des Programms ist zweifellos gut. Und sie wäre noch besser, wenn die finanzierte Forschung auf realen Fakten beruhte und der Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Identität wirklich diente. Ich fürchte aber, das wird nicht erreicht und auch gar nicht beabsichtigt. Wie jedes ehemalige Kolonialland hat auch Kasachstan unter einer Menge Minderwertigkeitskomplexen zu leiden. Zur Kompensation konstruiert man sich einen neuen nationalen Mythos. Es ist nicht so wie in Deutschland, wo es staatliche Programme der Kulturförderung gibt, die auf dem Vertrauen in die Expertise beruhen. Erst nach der Perestroika und der Unabhängigkeit wurde eine vorrevolutionäre Geschichte benötigt, doch kein einziger Doktor am Institut für Geschichte hatte jemals über diesen Geschichtsabschnitt geschrieben oder geforscht. Deshalb glaube ich nicht an die Ehrlichkeit der Forscher, die das nun machen.

DAZ: Wie ist die Situation des SCCA jetzt?

Ibrajewa: Ich gehe davon aus, den Laden in einem halben Jahr zu schließen. Es fehlt an Geld. Dass eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst viel Geld kostet, wenn sie gut sein soll, dass versteht man nicht. Auch nicht bei der Soros-Stiftung, von der wir im vergangenen Jahr zum letzten Mal Geld bekommen haben. Was mir Sorgen macht, ist unser Archiv, all die Videotapes und Bücher. Wo sollen die hin? Wir suchen einen sicheren Ort.

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