2019 jährt sich die Gründung der ASSR der Wolgadeutschen zum 95. Mal. Aus diesem Anlass nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Kulturgeschichte, insbesondere in den Jahren von 1918 bis 1956, unter die Lupe. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Bereits am 27. August 1941 erteilte das Innenministerium der UdSSR, damals: NKWD, den Befehl „Über die Maßnahmen zur Durchführung von Operationen zur Aussiedlung der Deutschen aus der ASSR der Wolgadeutschen und den Gebieten Saratow und Stalingrad“. Zum Wolgagebiet gehörten außer der Wolgarepublik mit 365.764 Menschen auch das Gebiet Saratow (46.706 Deutsche), das Gebiet Stalingrad (26.245 Deutsche), das Gebiet Kujbyschew (11.101 Deutsche) und das Gebiet Astrachan (19.850 Deutsche). Speziell für die Umsiedlung der Deutschen wurde eine Abteilung für Sonderumsiedlungen des NKWD eingerichtet, die in ihren Anordnungen zuerst den Begriff „Evakuierung“ verwendete. Bis Ende 1941 wurden 794.059 Sowjetbürger deutscher Nationalität aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien und Kasachstan „umgesiedelt“, darunter 438.715 Deutsche aus dem Wolgagebiet.

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Schon Anfang September 1941 begann die Registrierung der gesamten zur Deportation vorgesehenen Bevölkerung. Zur Durchführung der Deportation beorderte man in die Republik der Wolgadeutschen 1.200 NKWD-Mitarbeiter, 2.000 Milizionäre sowie 7.350 Rotarmisten, in das Gebiet Saratow 250 NKWD-Mitarbeiter, 1.000 Milizionäre und 2.300 Rotarmisten. Die Deutschen erhielten strengste Anweisung, ihren Wohnort nicht zu verlassen. Die Bahnhöfe und die Straßen der Wolgakolonien wurden von Patrouillen der NKWD (sowjetische politische Geheimpolizei 1934-1946) bewacht.

Das gesamte Vermögen der Umsiedler wurde konfisziert. Grundsätzlich konnte jede Familie Proviant, Kleidung und andere nützliche Gegenstände (bis zu 200 kg je Familienmitglied) mit sich führen. Die außerordentliche Hast – für den Aufbruch waren höchstens 24 Stunden gegeben – ließ jedoch meist nur ein Bündel mit den allernotwendigsten Gegenständen zusammenkommen. Laut der NKWD-Verordnung waren „Mitglieder der KPdSU(B) und des Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol) gleichzeitig mit den anderen umzusiedeln“. In gleicher Weise betraf das auch die Regierungsmitglieder der Wolgarepublik Konrad Hoffmann (1894-1977), Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der ASSRdWD, und Alexander Heckmann (1908-1994), Vorsitzender des Rates der Volkskommissare.

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In Güterzüge (40-60 Personen pro Waggon) Richtung Osten verfrachtet, mussten die Deutschen unter menschenunwürdigen Bedingungen wochenlang ausharren. Die Viehwaggons blieben während der gesamten Fahrt von außen verriegelt, der Proviant war knapp, und Trinkwasser stand in nur ungenügender Menge zur Verfügung. Dazu, wie die Deportationen verlaufen sind, gibt es zahlreiche Berichte von Zeitzeugen, unzählige Erinnerungen sind auch in Buchform festgehalten worden.

Ida Bender (1922-2012), Tochter des wolgadeutschen Schriftstellers Dominik Hollmann, erinnert sich in ihrem Roman „Schön ist die Jugend… bei frohen Zeiten“: „Wir glaubten nach wie vor fest daran, dass sich alles klären würde mit der Zeit. Man würde erkennen, dass wir treue Bürger des Sowjetstaates waren und sind, dass die Anschuldigungen unbegründet waren. Der Lastwagen brachte uns und weitere Deutsche nicht zur Eisenbahnstation, sondern an Gleise in freier Steppe hinter der Stadt. Hier lagerten schon viele deutsche Familien. Schweigend standen und saßen die Leute auf ihren Bündeln. Endlich, am späten Nachmittag, kam der Zug – rote Güterwaggons. Die breite Tür in der Mitte der Waggons stand offen. Die andere Tür auf der Seite gegenüber war verschlossen und davor eine Pritsche, von einem Ende des Waggons zum anderen errichtet. Auch entlang der anderen Wände waren Pritschen aus dicken ungehobelten Brettern gebaut. Plötzlich wurde die Waggontür zugeschoben, der Verschlussriegel klappte mit einem metallischen Klick ein. Bis heute höre ich dieses Geräusch. Wie eine Falle zuschnappte!“

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David Geibel (geb. 1930 in Zürich): „Es wurden Brot gebacken, Schweine und Hühner geschlachtet, Fleisch eingekocht und Speck eingesalzen. Die Kolchoskühe wurden nicht mehr gemolken. Auf der Tenne lag noch viel Weizen herum, das Vieh hatte sich überfressen und ist elendig zugrunde gegangen. Das Gebrüll der Kühe, die gemolken werden wollten, und das Geheul der Hunde, die ein Unheil witterten, stehen mir noch heute in den Ohren. Schon bald ging es mit Ochsen und Pferdewagen in Begleitung von bewaffneten Soldaten bis zum Wolgaufer. Mitnehmen durfte man nur so viel, wie jede Familie tragen konnte. Drei Tage mussten wir dann am Ufer unter freiem Himmel ausharren. Getrunken wurde aus der Wolga, da sind schon mehrere Kinder krank geworden. Endlich wurden wir auf Lastkähne verladen, und es ging flussabwärts Richtung Saratow. Da es dort keinen Platz zum Ausladen gab, schipperte man uns zurück nach Engels, dann wieder nach Saratow, wo wir endlich in Viehwaggons verladen wurden […] In der Diele hackte ein Mann mit dem Beil ein Loch – das war für die nächsten drei Wochen die Toilette für Jung und Alt.“

Olga Gehrke-Brauer (geb. 1950) erzählt über die Deportation ihrer Eltern: „Die Mutter packte die Singer-Nähmaschine ein. Der Vater verstaute einige Bücher in die Kiste. Und für die erst dreimonatige Lilli wurde eine kleine Wanne mitgenommen, die über die ganze Kriegszeit ihre guten Dienste leistete. Schließlich wurde das Haus abgeschlossen und der Schlüssel beim Vorsitzenden des Dorfrates abgegeben – niemand ahnte, dass der Abschied für immer war. Die Erwachsenen glaubten fest daran, dass sie nach dem Krieg in ihr Haus zurückkehren.“

Die ganze „deutsche Operation“ verlief unter Ausschluss der sowjetischen Öffentlichkeit und war bis Ende des Jahres 1941 im Wesentlichen abgeschlossen. Nach mehrwöchiger Reise gelangten die deportierten Wolgadeutschen an ihre Bestimmungsorte: Mehr als 80 Prozent wurden in sibirischen Gebieten und Regionen angesiedelt (die Regionen Altai und Krasnojarsk sowie die Gebiete Omsk und Nowosibirsk), den Rest verteilte man auf die Gebiete Kustanai, Pawlodar, Nordkasachstan und Akmolinsk in Kasachstan. Nach Angaben des Innenministeriums verstarben von den in den Jahren 1941-1942 ausgesiedelten Deutschen 1.490 Personen unterwegs. Dabei handelte es sich hauptsächlich um ältere Leute, Säuglinge und Kleinkinder, die den Anstrengungen der mehrtägigen Reise in Viehwaggons nicht gewachsen waren.

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Kaum waren die Wolgadeutschen fort, wurde das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen laut dem Beschluss des Präsidiums des Obersten Rates der Sowjetunion vom 7. September 1941 zwischen den Gebieten Saratow und Stalingrad (seit 1961 Gebiet Wolgograd) aufgeteilt. Damit verletzte dieser Beschluss die Verfassung der ASSRdWD und insbesondere den Artikel 15, der besagte, dass „Das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen ohne Einverständnis der ASSR der Wolgadeutschen nicht verändert werden darf“. Das wurde willkürlich und über Nacht außer Kraft gesetzt.

Durch die Auflösung aller kulturellen Institutionen in den Herkunftsgebieten, Sondersiedlung unter der Kommandanturaufsicht, Zerstreuung über Sibirien, Kasachstan und Zentralasien, das Studiums- und Berufsverbot wurde die Grundlage für eine eigenständige Entwicklung der Deutschen in der Sowjetunion unwiederbringlich zerstört. Dennoch: Die Hoffnung, in die alte Heimat an die Wolga zurückzukommen, hat viele Wolgadeutsche in den Jahren der Verbannung nie losgelassen. Die alte Heimat winkte stets aus der Ferne und nährte so Erinnerungen und Hoffnungen.

Nina Paulsen

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