Nargisa Taschijewa (23) aus Osch nutzte die Gelegenheit, ein Porträt über einen Familienangehörigen zu schreiben, um ihrer Großtante auf dem Dorf einen Besuch abzustatten. Es war das erste Mal, dass sie in dieses Dorf fuhr. Ihre Großtante Aisalkyn empfing sie herzlich und erzählte Nargisa die Geschichte ihres Großvaters.

Das Dorf Langar liegt von Osch aus auf dem Weg ins Alai-Gebirge und gehört zum Gebiet Kara-Suu in Südkirgisistan. Entlang des Wegs kann man viele Pferde, Schafe, Kühe, Esel und natürlich schöne weiße Jurten sehen. Die Landluft hier ist frisch, die Natur ist mit der Stadt unvergleichbar. Der Sommer in Osch ist sehr heiß. Doch der ganze Stress, der durch das bedrückende Wetter in der Stadt und die Zeit des Ramadan entsteht, fällt in den Bergen auf einmal von einem ab.

Tante Aisalkyn ist im Dorf Langar geboren. Sie hat sieben Kinder, die selbst schon eigene Familien haben und an anderen Orten wohnen. Sie wohnt hier im Dorf mit ihrem zweiten Sohn. Tante Aisalkyns Wohnung liegt in der Nähe der Hauptstraße und ist leicht zu finden. Der Empfang in ihrem Haus ist sehr herzlich.

Aisalkyn ist schon 80 Jahre alt. Aber sie sieht super fit aus. Es scheint, dass sie auf ihre Gesundheit Acht gibt. Über ihre Familiengeschichte weiß sie sehr viel und berichtet gern. „Es war eine schwere Zeit, als mein Bruder geboren wurde: 1943, am ersten Mai. Er wurde während des Zweiten Weltkriegs geboren, und mein Vater hat in dieser Zeit in Batol, in Sibirien, gearbeitet. Obwohl ich noch klein war, erinnere ich mich deutlich an seine Geburt. Wir gaben ihm den Namen Taschi. Das bedeutet mutig und hart wie ein Stein. Er war der erste und einzige Sohn der Familie, und meine Mama hat ihn erst mit 45 Jahren geboren“, beginnt sie die Erzählung über ihren Bruder. Während des Gesprächs ist Tante Aisalkyn sehr ruhig und trinkt ab und zu mit Genuss an ihrem heißen grünen Tee. Es sieht aus, als ob sie ganz tief in ihre Erinnerungen versunken ist.

Zu der Zeit hatte die Familie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Als ihr Bruder ein Jahr alt war, kam ihr Vater aus Batol zurück und kümmerte sich wieder um die Familie. „Damals hatte jede Familie mindestens sechs Kinder und die Söhne blieben in der Familie. Das ist auch heute sehr wichtig, aber nicht mehr so wie früher. Deswegen hat meine Mutter ihrem Mann erlaubt, eine zweite Frau zu nehmen. Sie hat ihm sogar bei der Suche geholfen. So lebte er 20 Jahre lang mit zwei Frauen zusammen. Sie haben dann noch vier Söhne und drei Töchter bekommen. Erst als mein Bruder geheiratet hat, sind sie nach Osch ins Dorf Monok umgezogen. Ich hatte schon geheiratet und lebte mit meiner eigenen Familie in Langar.“
Heutzutage ist es unvorstellbar, mit zwei Frauen zu wohnen. Polygamie ist sogar gesetzlich verboten. Dennoch sagt Tante Aisalkyn, dass die zweite Frau ihres Vaters ihr wie eine Schwester war, und sie froh war, sie in der Familie zu wissen. Doch warum nach Osch umziehen, wenn alle so glücklich in Langar waren?

„Wegen der Arbeit. Mein Bruder hatte einen schweren Unfall. Er hat seine linke Hand schwer verletzt und musste sie bis zum Ellbogen amputieren lassen. Nach diesem Unfall hat er begonnen, in der Stadt zu studieren und hat in der Karl-Marx-Kolchose erst als stellvertretender Vorsitzender und dann viele Jahre als Hauptbuchhalter gearbeitet.“
Es scheint, dass die Familie verhältnismäßig reich gelebt hat. Aisalkyns Bruder hatte alles. Damals war es sehr selten, dass jemand ein eigenes Auto hatte. Sie sagt: „Mein Bruder hatte fünf Söhne und eine Tochter. Die Kinder waren immer satt und in Sicherheit. Seine Frau war nett und freundlich. Ich war sehr stolz und glücklich über sein Los. Er half auch anderen Verwandten, wenn sie in Not waren.“

Aber das Leben war nicht immer nur von Glück erfüllt. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Aisalkyns Bruder mit anderen Mitarbeitern angeklagt. Der Grund bleibt bis jetzt ungeklärt. Er wurde nach zehn Monaten wieder rehabilitiert: „Man hat die Anklage zurückgezogen. Für die Familie war diese Zeit sehr schwer. Seine Frau war eine sehr gute Näherin und hat einen „Schyrdak“ genäht (ein typischer kirgisischer Teppich, der schwer zu fertigen ist). Sie hat den Teppich verkauft und sich um die Kinder gekümmert. Nach seiner Rehabilitation hat Taschi bis zur Rente als Dorfverwalter gearbeitet. Er war sehr angesehen in Osch. 2005 ist er mit 64 Jahren gestorben“, beendet Aisalkyn die Geschichte ihres Bruders.

Nargisa Taschijewa

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