Seit 1990 feiert die Bundesrepublik Deutschland den 3. Oktober als Nationaltag der deutschen Einheit. Das 25. Jubiläumsjahr, das am kommenden Montag zu Ende geht, ist symbolhaft für eine Erfolgsgeschichte. An diesem Tag erinnern sich die Deutschen gerne an ihre Geschichte, diskutieren über Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede Ost-und Westdeutschlands, aber vergessen auch nicht aktuelle Themen wie die Flüchtlingspolitik. Siegfried Schade erzählt der DAZ seine eigene Erfolgsgeschichte. Er berichtet, wie er selbst als Kriegskind und Flüchtling alles erlebt hatte.

 

In Deutschland ist es schon kalt, besonders morgens und abends. Überall liegen farbenfrohe, trockene Blätter auf den Straßen – man fühlt sofort, dass der Sommer vorbei ist. Es ist Ende September und die Redaktion, in der ich zurzeit mein Praktikum absolviere, schickt mich um ein Herbstfoto zu machen. Es ist dringend. Ich laufe auf der Straße und suche nach dem Herbst im Fokus meiner Kamera. Zufällig sehe ich, wie ein Mann mit Hut in langem Mantel langsam eine Straße entlanggeht. Ich sehe auf dem Bildschirm den kalten Regen – in der ungemütlichen Stimmung und in diesem Mann zeigt sich die ganze herbstliche Traurigkeit. Ich gehe sofort zu ihm, bitte um ein Porträt. Er stimmt freundlich zu und fragt wofür ich es brauche. Ich erzähle ihm, dass ich Praktikant bei der Märkischen Oderzeitung bin und ein Foto für die nächste Ausgabe brauche. Er freut sich ein bisschen, dass er morgen in die Zeitung kommt und erzählt, dass er das letzte Mal vor 25 Jahren in Frankfurt an der Oder war und heute seinen Bruder hier begraben hat. Denn eigentlich wohnt Siegfried Schade in Saarbrücken.

Der Letzte der Familie

Ich bin 1935 in Frankfurt (Oder) geboren. Damals war Mutter, wie andere Mütter, immer zuhause. Mein Vater war bei der Reichsbahn tätig. 1941, als der Krieg schon angefangen hatte und ich eingeschult wurde, habe ich vom Krieg nur wenig mitbekommen. Wir hörten, dass viele gefallen seien, auch mein Vater ist nie zurückgekehrt. Meine Erinnerungen bis zum Alter von 16 Jahren sind sehr beschränkt.
Wir waren sechs Kinder in der Familie, ich und meine fünf Geschwister. Ich ging in Frankfurt zur Schule, bis wir kurz vor dem Kriegsende in den Landkreis Lüchow-Dannenberg an die Elbe flüchteten. Das liegt
70 Kilometer südöstlich von Berlin. Im Jahr 1946, als der Krieg zu Ende war, sind wir in unsere Heimatstadt zurückgekehrt. Nun lag Frankfurt in einem anderen Land – in der Ostzone – die später die Deutsche Demokratische Republik wurde. Nach dem Krieg bin ich noch vier Jahre hier zur Schule gegangen, wo ich auch Russisch lernte. Und dann kam meine Lehrzeit als Zimmermann: Dachstühle und Treppen bauen und alles was mit Holz zu tun hatte. Von 1946 bis 1957 habe ich dann weiter in der DDR gelebt. 1954 habe ich geheiratet.
Doch 1957 habe ich schließlich der DDR den Rücken gekehrt und bin nach Westdeutschland geflohen. Denn in der DDR ging es für mich nicht mehr weiter. Das Leben war hart. Zum Beispiel musste man auf ein eigenes Auto, den Trabant, zehn Jahre warten. Ende der 1980er Jahre sogar 17 Jahre. Hieran zeigt sich die schlechte wirtschaftliche Lage der DDR. Es war einfach miserabel. Es ging aber auch schon sehr schwierig los. Gleich nach dem Krieg war die Verpflegung sehr schlecht. Alles war kaputt, man hatte nichts zu essen, es war eine schlimme Zeit. Ich habe von einem besseren Leben in Westdeutschland geträumt. Und wie sich herausstellte war es auch so. Ich bin geflohen, ich war ein Flüchtling. Ich bin zum Glück noch vor dem Bau der Berliner Mauer geflohen, die kam erst 1961. Und bis dahin konnte man von Frankfurt nach Berlin noch einfach mit dem Zug fahren. In Berlin fuhren die S– und U-Bahnen dann durch alle Sektoren. Deshalb konnte man einfach im Osten einsteigen und im britischen oder amerikanischen Sektor austeigen. Aber um nach Westdeutschland zu kommen, musste man das Flugzeug nehmen. Berlin war eine Insel, drumherum war die russische Besatzungszone von der Oder bis zur Elbe.
Obwohl ich jung und verheiratet war, floh ich. Meine Mutter und meine Geschwister sind nicht mit mir gekommen. Sie liebten ihre Heimat zu sehr und hofften, dass es auch hier besser werden würde. Aber es wurde stattdessen immer schlechter, sodass meine Mutter und meine Geschwister kurz vor dem Bau der Mauer auch nach Westdeutschland flohen. Da waren wir endlich wieder zusammen. Aber nicht alle. Zwei meiner Geschwister sind in der DDR geblieben. Meine große Schwester Elinor und mein Bruder Hans, den wir heute beerdigt haben. Und da ist noch meine Zwillingschwester Brigitte, wir sind in der Mitte. Zum Schluss kamen noch meine kleine Schwester Renate und unser kleiner Nachzügler Eckhart, (denn der Papa kam auch ein paar Mal „zum Urlaub“). Der kleine Eckhart lebte nur sechs Jahre. Er starb an einer Darmkrankheit, an der man jetzt gar nicht sterben würde. Hans und Renate sind in Frankfurt geblieben. Ich war bestimmt ein Duzend mal zu Besuch wegen meiner Geschwister, sogar während der DDR-Zeit. Nach der Flucht hatte ich einen westdeutschen Pass. Die Polizei an der Grenze machte den Pass auf und sah „geboren in Frankfurt an der Oder“, da hat man gleich gewusst dass ich ein Flüchtling war. Sie haben zwar nichts gesagt, aber ich wurde viel strenger kontrolliert als ein normaler Westdeutscher. Wenn es zu lange an der Grenze dauerte, hat der normale Westdeutsche angefangen zu mäkeln. Ich war da vorsichtiger.
Nach meinem Umzug in Saarbrücken habe ich nicht direkt erlebt, dass jemand zu mir Wessi oder Ossi gesagt hat. Ich war eigentlich beides. Ich bin hier in Frankfurt, Ostdeutschland, geboren und habe in Westdeutschland gelebt. Ich war für die Ostdeutschen eine Wessi, und für die Westdeutschen ein Ossi.
Ich bleibe in Saarbrücken, denn meine Familie, zwei Söhne und Enkel sind alle dort. Was soll ich hier alleine in Frankfurt. Keiner mehr da. Ich bin der Letzte hier.

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