Grenzüberschreitungen finde ich an sich super. Neue Erfahrungen. Über sich hinaus gehen, und so weiter. Darüber könnte ich ohne Punkt und Komma Vorträge halten. In Gedanken Stiftungen gründen, die das Überschreiten von Grenzen fördern. Tja, und während ich schwadroniere, stoße ich im Alltag ständig an meine Grenzen – und tue mich schwer, sie zu überschreiten. In diesem Fall: das Mischen von Kohlehydraten.

In meiner Vorstellung isst man nur eine Sorte Kohlehydrate oder Sättigungsbeilage oder wie man das klassifizieren mag, jedenfalls: Kartoffeln ODER Reis ODER Nudeln. Da muss man sich schon entscheiden, spricht in mir die spießige Stimme, als hätte mir das jemals jemand eingebläut. Hat aber niemand, solche Sprüche gab es bei uns zu Hause nicht, auch sonst nirgendwo. Es gab schlicht und ergreifend immer nur Kartoffeln ODER Reis ODER Nudeln, ohne Ankündigung, Diskussion oder Reflexionen über Nahrungsmittel und Essgewohnheiten. Ich wüsste auch nicht, was das Schädliches verursachen sollte: Sodbrennen, Magenkrämpfe, Durchfall… Nein, hierzu habe ich nie irgendeine Geschichte gehört oder gelesen. Also, warum sollte man die Beilagen nicht gleichzeitig essen können? Aber schon allein die Vorstellung, dass mindestens zwei dieser Beilagen nebeneinander auf meinen Teller neben dem Schnitzel liegen könnten, stößt bei mir auf innere Abwehr. Aber dass es auch noch gemischt wäre, das geht eigentlich gar nicht.

Zuletzt war ich damit konfrontiert. Erst schockiert und dann ratlos saß ich vor meinem chinesischen Gericht und entdeckte in dem Allerlei: Kartoffelstücke! In meiner Vorstellung gibt es erstens in chinesischen Gerichten keine Kartoffeln, denn es gibt ja Reis, und zwar immer! Und sollte es wider Erwarten Kartoffeln geben, dann aber anstatt Reis und nicht sonst wie. In meinem Gericht waren sie aber im Gemüse versteckt. Hier gehören die Kartoffeln ja nun wirklich nicht hin, Sättigungsbeilage bleibt Sättigungsbeilage.

Ich redete mir gut zu, dass das ja nicht schlimm sei, mein Gott, Kartoffeln eben; dass die Chinesen schon wüssten, warum sie Kartoffeln in das Gericht gäben, weil es wahrscheinlich sehr lecker schmeckt; dass ich jetzt mal gefälligst meine Grenzen überschreiten müsse, das sei ja wirklich albern; dass ich mich ja freuen könne, neue Anregungen und Erfahrungen … Alle Argumente halfen nichts. Ich erwischte mich, wie ich penibel in dem Essen stocherte, um die Kartoffelstücke zu identifizieren und zumindest nicht versehentlich mitzuessen. Ab und zu steckte ich mir ganz vorsichtig ein Stück in den Mund, als wäre es eine gefährliche Geheimwaffe, gut isoliert vom Reis, bis ich mir schließlich eingestand: Nein, ich will und will keine Kartoffeln in meinem chinesischen Essen mitessen. Jetzt schon etwas selbstbewusster fischte ich die Kartoffeln kurzerhand raus und konnte endlich beherzt zufassen, mir ungehemmt die Backen vollschaufeln und mit Genuss kauen und schlucken. Welch Erleichterung! Seltsam, dass es mir offensichtlich leichter fällt, mal eben so mir nichts, dir nichts, ohne nachzudenken, nach Sibirien oder Wladiwostok zu fahren, während ich mich so schwer tue, Kartoffeln mit Reis zu essen. Gut, jedem die seine Macke! Ob allerdings in meiner Stiftung zur Förderung der Grenzüberschreitung für diesen Fall ein Sonderförderprogramm aufgelegt werden sollte, muss ich noch überdenken. Aber wer weiß, es gibt nie Probleme, die nicht andere Menschen auch hätten, ich schau gleich mal in den Internetforen nach potenziellen Kunden.

Julia Siebert

03/07/09

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