Im Bundesinnenministerium war Rechtsanwalt Dr. Ortlieb Fliedner für Verwaltungsmodernisierung und gute Gesetzgebung („better regulation“) zuständig. Als Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Stadt Marl setzte er seine theoretischen Kenntnisse in die Praxis um und modernisierte die Verwaltung der 90.000-Einwohner-Stadt. Im Interview mit der DAZ spricht Dr. Ortlieb Fliedner über seine Eindrücke von Kasachstan, wo er auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung sein Wissen in Seminaren und Vorträgen weitergab.

/Bild: privat. ‚In Kasachstan gab Rechtsanwalt Dr. Ortlieb Fliedner (Mitte) sein Wissen in Seminaren und Vorträgen weiter. ‚/

Herr Dr. Ortlieb Fliedner, auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung sprachen Sie in Astana und Ust-Kamenogorsk zu den Thema Effizienz der Staatsverwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichte in Deutschland sowie die Menschenrechtssituation in Deutschland. Welche administrativen Reformen und Erfahrungen aus Ihrer Zeit als Bürgermeister in Marl und zuvor als Beamter im Bundesinnenministerium könnte man in Kasachstan nutzen?

Im Bundesinnenministerium war ich unter anderem für Verwaltungsmodernisierung und gute Gesetzgebung – heute sagt man „better regulation“ dazu – zuständig. Als Bürgermeister habe ich meine theoretischen Kenntnisse in die Praxis umgesetzt und die Stadtverwaltung von Marl modernisiert. Dabei ging es vor allem darum, den Service der Verwaltung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren. Ich denke, dass man alle diese Erfahrungen in Kasachstan nutzen könnte, da sowohl die Gesetzgebung als auch die Verwaltung auf der ganzen Welt in ähnlicher Weise arbeiten. Unsere deutschen Erfahrungen mit Verwaltungsmodernisierung und Verbesserung der Gesetzgebung, die wir in den letzten 20 Jahren gesammelt haben, könnten daher auch für Kasachstan nützlich sein.

Welches Know-How bringen Sie konkret mit, das Sie vielleicht in einem weiteren Besuch in Kasachstan oder eines weiteren zentralasiatischen Landes weitergeben könnten?

Zu meinen Spezialgebieten gehört die gute Gesetzgebung. Ich berate zum Beispiel die Länder, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, dabei, wie sie ihre Gesetze den europäischen Standards angleichen können, um eines Tages Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Theoretische und praktische Erfahrung habe ich in der Modernisierung von Verwaltungen. Sehr intensiv habe ich in Marl bürgerschaftliches Engagement gefördert. Für eine lebendige Demokratie ist eine aktive Zivilgesellschaft lebenswichtig. Darüber hinaus habe ich in vielen Funktionen erlebt, wie eine Demokratie arbeitet und darüber ein Buch mit dem Titel „Warum soll ich wählen gehen? Wie funktioniert unsere Demokratie?“ geschrieben. Kasachstan ist mit seinen 20 Jahren ein sehr junger Staat.

Die Bundesrepublik Deutschland ist schon über 60 Jahre alt. Ich denke, unsere Erfahrungen mit dem Staat, der Verwaltung, den Gerichten, der Gesetzgebung und der Zivilgesellschaft können für die Länder in Zentralasien interessant sein, insbesondere, um Fehler zu vermeiden, die wir gemacht haben.

Welche Eindrücke hatten Sie von Kasachstan? Gibt es beispielsweise Gemeinsamkeiten zwischen der nordrhein-westfälischen Stadt Marl und Astana oder Ust-Kamenogorsk?

Marl ist eine Stadt mit etwa 90.000 Einwohnern, die am nördlichen Rand des Ruhrgebiets liegt. Mit Ust-Kamenogorsk verbindet sie, dass sie viele industrielle Arbeitsplätze bietet: Der Chemiepark Marl gehört zu den führenden Chemiestandorten in Europa. Auf einem 650 Hektar großen Gelände produzieren circa 30 Unternehmen mit über 10.000 Beschäftigten ein breites Spektrum an Produkten und Dienstleistungen. Das Bergwerk Auguste Victoria ist eines von noch acht Steinkohlebergwerken in Deutschland. Rund 4.000 Mitarbeiter fördern jährlich drei Millionen Tonnen hochwertiger Steinkohle in über 1.000 Metern Tiefe. 125 Kilometer Streckennetz und eine komplexe Logistik mit 60 Kilometer Bundesstraßen garantieren den reibungslosen Transport.

Darüber hinaus ist Marl eine grüne Stadt mit sehr viel Bäumen an den Straßen, wie ich es auch in Ust-Kamenogorsk gesehen habe. Mit Astana verbindet Marl, dass ihr Zentrum auf dem Reißbrett geplant und auf einer völlig unbebauten Fläche errichtet wurde. Dies geschah vor fast 40 Jahren und natürlich in einer viel kleineren Dimension als in Astana. Aber so wie Astana jetzt besonders modern ist, war damals das neue Zentrum Marls städteplanerisch hochmodern.

Was hat Sie in Kasachstan positiv und negativ überrascht?

Die vielen offenen und klugen Gespräche darüber, wie man Kasachstan weiter voranbringen kann, waren sehr positiv. Ein Seminar fand in Borowoje statt. Dort hatte ich Gelegenheit, eine wunderschöne Landschaft mit Seen, Wäldern und interessanten Felsformationen kennen zu lernen. Schockiert hat mich, dass in den Gefängnissen Kasachstans 70 Personen in einem Raum untergebracht sind.

Interview: Elvira Pak, Redaktion: Christine Karmann

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Dr. Ortlieb Fliedner geb. in 1942 in Hannover. Nach dem juristischen Studium arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bonn. Von 1974 bis 1995 war er im Bundesinnenministerium tätig. Zu seinen Arbeitsfeldern zählten unter anderem Europarecht, Neue Medien, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung und gute Gesetzgebung. Von 1977 bis 1981 unterstützte er als persönlicher Referent einen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. Von 1985 bis 1986 hatte er die Hauptgeschäftsführung des Deutschen Journalistenverbandes inne. Von 1975 bis 1992 – Mitglied des Rates der Stadt Bonn. Von 1995 bis 1999 übte Dr. Fliedner das Amt des ersten hauptamtlichen Bürgermeisters der Stadt Marl aus. Seit 2000 ist er freiberuflich als Rechtsanwalt tätig. Dr. Ortlieb Fliedner ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung.

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