Als zehnjähriges Mädchen wanderte Anna Hoffmann nach dem Zerfall der Sowjetunion mit ihrer Familie von Kasachstan nach Deutschland aus. Heute studiert die 27-Jährige an der Filmakademie Baden-Württemberg Regie und greift in ihrem aktuellen Film „Welche Richtung geht’s nach Hause?“ dieses Thema wieder auf. Gemeinsam mit Vater und Onkel besuchte sie 15 Jahre nach der Ausreise nach Deutschland das Dorf ihrer Kindheit.

„In Kasachstan waren wir die geachteten, in Deutschland wurde auf uns heruntergesehen“: Friedrich Hoffmann sitzt im Zug nach Kasachstan und erzählt. Gemeinsam mit seiner Tochter Anna Hoffmann und seinem Bruder Alexander Scharf hat er sich aufgemacht. Aufgemacht, um nach 15 Jahren ein Fleckchen Erde zu besuchen, dass früher ihre Heimat war. Vielleicht immer noch ist. Die Hoffmanns sind Kasachstandeutsche und wie zwei Millionen andere Spätaussiedler nach dem Ende der Sowjetunion nach Deutschland ausgewandert. Sie haben sich entschlossen, ihr altes Dorf zu besuchen. Um Antworten zu finden auf die immer wiederkehrende Frage: War es richtig, zu gehen?

„Deutschland ist ein Wunderland“

Schummriges Licht, in der Mitte eine Teekanne und zwei leere Gläser, dahinter die Gardinen der Wagonfenster, auf denen „Kasachstan“ steht. Es ist Nacht. Alexander und Friedrich liegen in ihren Betten und reden. Dazu ist viel Zeit. Acht Tage dauert die Reise mit dem Zug von Hannover nach Almaty. „Einmal selbst zu sehen ist besser, als zehnmal etwas darüber zu hören“, sagt Alexander zu seinem Bruder. Sie haben Fragen. Wie wird sich Kasachstan verändert haben, wie wird ihr Dorf aussehen?

„Wenn mich die Leute fragen, ob es richtig oder falsch war, nach Deutschland zu gehen, so kann ich die Frage noch immer nicht beantworten“, erzählt Alexander und blickt lange, ohne etwas zu sagen, aus dem Fenster. Er kaut auf einem Zahnstocher herum. Tränen steigen ihm in die Augen. Wälder und Seen ziehen vorbei. Gardinen flattern im Wind. „Wir haben damals Briefe bekommen von Aussiedlern, die schon nach Deutschland ausgewandert waren. Der Ton war: Deutschland ist ein Wunderland“, beschreibt er die Situation nach dem Ende der Sowjetunion. Diese Briefe waren es, die Mut machten und halfen, die Ängste zu überwinden. „Einmal hatte ich eine Panne, kein Auto hat angehalten, bis ich verstanden habe, dass ich den ADAC rufen muss. Nur einer hat damals angehalten – es war ein Aussiedler“, ergänzt Friedrich die Erzählungen seines Bruders und beschreibt seine ersten Begegnungen mit einer völlig fremden Kultur.

Die Steppe zieht vorbei. Kühe und Staub. Im Zug verkauft eine alte Frau selbstgewebte Nierenwärmer aus Kamelwolle. Gespräche mit den ehemaligen Landsleuten.

„Die Straße kenne ich“: Friedrich blickt aus dem Fenster und rasiert sich. Sie erreichen Almaty. Mit dem Auto geht’s durch die Steppe ins Dorf, ein Hirte sitzt am Wegesrand.

Die alte Frage

Rasselnd ziehen sie ihre westlichen Rollkoffer über die sandige Straße. Sie suchen die Steppen-Straße. Und finden sie nicht. 15 Jahre haben viel verändert. Sie wollen einen Mann an der Straße fragen. „Alexander, das ist peinlich, lass uns selber nachdenken, zumindest sage nicht, wen du suchst“, sagt Friedrich. Alexander fragt – und trifft den ersten alten Freund. Sie finden ihre ehemaligen Häuser. Und die alten Freunde, die jetzt dort wohnen.
Anna drückt ihren Kopf eng an die Hauswand. Eine Träne läuft ihr über die linke Wange. Alle sind aufgewühlt. Die alten Räume, der alte Garten, die alten Gerüche. Friedrich sitzt vor der Stereoanlage und hört Musik von einst. „Früher haben wir dazu getanzt“, sagt er, und fordert seine Tochter zum Tanz auf.

Freunde haben sie zum Abendessen eingeladen. Eine Frau zitiert Goethe – ins Kasachische übersetzt. „Meine Tochter fragt mich oft, wo unsere Heimat ist – ich kann ihr die Frage nicht beantworten“, wirft Friedrich in die Runde. Und die alte Frage ist wieder auf dem Tisch.

„Wo ist diese Heimat?“

An vielen Orten sind die Verwandten von Alexander aufgewachsen: der Urgroßvater in Deutschland, der Großvater an der Wolga, der Vater in Sibirien, er selbst in Kasachstan. „Wo ist jetzt diese Heimat?“, fragt er die anderen. „Deine Heimat ist da, wo Deine Nabelschnur durchschnitten wurde – ganz einfach, keine Diskussionen“, antwortet ein Mann am Tisch.

Ob diese Frage für Alexander, Friedrich und Anna genauso einfach zu beantworten ist, bleibt offen. „Sie sind nicht mehr so hin- und hergerissen, sie haben Antworten gefunden und gesehen, dass es keinen Weg zurück gibt“, erzählt Anna Hoffmann im Nachhinein über ihren Film, der auch für sie zum ersten Mal die Begegnung mit der ehemaligen Kindheit bedeutete.
Doch die Fragen werden wohl bleiben. Spätestens dann, wenn Annas kleiner Sohn sie eines Tages fragen wird: „Wo ist eigentlich unsere Heimat?“.

Dokumentarfilm „Welche Richtung geht’s nach Hause?“, DVD, 68 Minuten, Bestellung über
annaspostfach@aol.com.

Von Friedemann Schreiter

28/09/07

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