Im Deutschen Theater Almaty hatte das Stück „Fisch um Fisch“ von Roland Schimmelpfennig Ende April Premiere. Mit Mitteln des Goethe-Instituts inszenierte die deutsche Regisseurin Julia Afifi das Stück um eine Familie und adaptierte es für die kasachische Gegenwart der Russlanddeutschen.

„Fisch um Fisch” so der Titel des selten gespielten Frühwerks von Roland Schimmelpfennig, das Ende April im Deutschen Theater Almaty Premiere hatte. Bei diesem Titel drängt sich zuerst der Gedanke an „Auge um Auge“ auf. So richtig stimmig erscheint die Konstellation aber nicht, und weiteres Grübeln führt zur Erkenntnis, dass es sich hierbei wohl um eine einfache Aufzählung handeln muss, die in der Unendlichkeit kein Ende findet und Mühsal impliziert. Der beim Anblick der Plakate, dem abgebildeten scheinbar unauflösbaren Widerspruch zwischen Häkelpilz und Fischfang, neugierig gewordene Theaterbesucher lässt sich also gespannt auf seinem Sessel nieder und blickt auf die Bühne. Die Deutsche Julia Afifi hat das Stück mit Unterstützung des Goethe-Instituts inszeniert. Was der Zuschauer dort am Premierenabend bei ausverkauftem Haus sieht, widerspricht seinem russische Theatertraditionen gewohnten Auge. Das ist auf gemalte Kulissen und prachtvolles Interieur trainiert. Stattdessen springt ihm Sperrmüll aller Art ins Auge, arrangiert von der deutschen Bühnenbildnerin Malve Lippmann. Und auch die Menschen, welche sich in ihm tummeln, fügen sich, in Plastik gewickelt, harmonisch in dieses Bild ein. Der, wie sich später herausstellt, Vater der mutterlosen Familie (Ljoscha, Alexej Schneider) sitzt, in Gedanken versunken und in braunen Strick gekleidet, in einem klapprigen und ebenso braunen Drehsessel, in der Hand einen Deutschsprachkurs haltend.

Hier nun erinnert sich unser Besucher wieder daran, wo er sich eigentlich befindet, nämlich im traditionsreichen Deutschen Theater Almaty, welches seine Stücke in deutscher Sprache aufführt und insbesondere die deutsche Minderheit in Almaty anzusprechen gedenkt.

Enthusiastischer Vokabelfleiß

Und ganz offensichtlich haben wir es hier entweder mit typisch deutschem Perfektionismus zu tun, welcher die Schauspieler auch während des Spiels dazu anhält, jede freie Sekunde dem Sprachenstudium zu widmen. Und die damit auch Vorbild sein könnten für die ganz sicher zahlreich im Publikum sitzenden Germanistikstudenten, welche ebenfalls jede sich bietende Möglichkeit nutzen, ihre Deutschkenntnisse auszubauen. Oder aber man möchte uns sagen, dass der Vater im Stück nur über unzureichende Deutschkenntnisse verfügt, selbige aber offensichtlich dringend braucht, da ein so abgerissen in braunen Strick gekleideter Mensch doch eher selten enthusiastischen Vokabelfleiß entfaltet. Wobei sich natürlich auch hier der Enthusiasmus in Grenzen hält.

Während das Publikum noch dabei ist, die ihm zugewiesenen Plätze einzunehmen, entfährt dem Vater ab und zu ein lautes Gähnen und das Lehrbuch droht, seiner Hand zu entgleiten. Seine Augenlider schließen sich wie von selbst, die Aufmerksamkeit des Betrachters wird so elegant auf das in Müll gekleidete und mit Müll spielende, dabei ganz in sich versunkene Kind (Lisa Wyssotschina-Flach) im Vordergrund gelenkt, welches eine unbekannte Kindermelodie vor sich hin summt.

Umrahmt ist diese in rotblaues Zellophan gewickelte Gestalt linkerhand von einem kleinen blauen Papphäuschen und rechterhand von einem großen, von schreiender Reklame umwickelten Papphochhäuschen. Altes und neues Almaty bieten also den Rahmen für unsere Wassergeschichte. Das zweite Kind der dreiköpfigen Familie (hervorragend tragikomisch gespielt von Natascha Dubs), ein Mädchen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, hat den Kopf ins neue Almaty gesteckt und hält sich dem Publikum verborgen. Da fängt das Zellophankind an zu reden. „Deine Mütze ist glücklich, weil sie hier geblieben ist.“ Bestand also für die Mütze die Möglichkeit, wegzufahren oder gar auszureisen? Zusammen mit dem Mützenbesitzer, in diesem Falle dem Vater? Hat die eine Familie in der Regel komplettierende und hier nicht auffindbare Mutter etwa von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht? Und langsam steigt im Russlanddeutschen geschulten Betrachter die Ahnung auf, dass es sich um eine ebensolche Familie handeln könnte. Auf der einen Seite der Vater, der den Sprachtest „Start Deutsch I“ nicht geschafft hat, weshalb er noch in kasachischen Gefilden weilt, und dann die ehrgeizige Mutter dagegen, die, ihr Ziel fest im Auge, die Hürde überwand.
Schimmelpfennigs Stück wurde hier also brandaktuell in die kasachische Gegenwart integriert. Und die glückliche Mütze gibt uns zu denken. Haben es beide, Vater und Mütze, am Ende besser getroffen als die strebende Mutter, die ihr Leben entschlossen in die westliche Welt getragen hat? Die Frage ist in den Raum gestellt, störrisch gegen die armutverheißende Lumpenkulisse ankämpfend. Arm aber glücklich? Arm? Glücklich? Wenden wir uns den Fischen zu: Makrelen, Sardinen, Tintenfische. Alles, was das Herz begehrt. Allein es fehlt am Instrumentarium, sie elegant zu fischen. Keine Angel, kein Messer, kein Netz. Die glückliche Mütze muss helfen, doch tut sie dies nur bedingt. Ein heftiges Ringen um die um Klassen besser zum Angeln geeigneten Badelatschen des Vaters setzt ein. Sein schon beim Sprachtest bewiesenes, mangelndes Durchsetzungsvermögen lässt ihn auch hier versagen, und das Zellophankind gewinnt abermals den Kampf gegen den Vater. Es wendet sich wieder verbissen dem Ölsardinenangeln zu. Nun kommt der Teenager ins Spiel. Tanzen will das Kind lernen, von einem eleganten, frankophilen Herrn, der gern Tuch kaufen möchte (fließend deutsch sprechend, obwohl des Deutschen nicht mächtig, Philipp Woloschin). Stolz schleppt es einen goldenen Löffel nach Hause, ein Geschenk des Herrn. Ein Ruder. Eine Richtung. Der Weg ins Glück. Der Löffel bringt Verheißung ins trostlose Fischeinerlei, ein französischer Fluss als Paradies. Ein Schwertfisch gesellt sich dazu, Feuerfische tauchen auf. Da lassen plötzlich die kunterbunten Häkelpilze ihre roten Köpfchen traurig hängen. Und der Teenager verkündet trostlos „Mein Magen spricht mit mir. Wie lange brennt ein Stuhl?“. Das rosa Glitzerröckchen wippt dazu betroffen im Takt.

Erlösung in Gestalt eines Fisches

Da plauzt plötzlich die Erlösung vom Himmel. Ein Fisch kracht auf den Boden mitten in die große Pfütze, die sich leise, still und heimlich über die Bühne gelegt hat. Der letzte Kampf des Zellophankindes beginnt. Nun endlich ein ebenbürtiger Gegner. Auch Kasachstan bietet seinen Bürgern die Chance, sich zu bewähren. Der Fisch wird gebettet auf den einzigen Tisch im Haus. Der einzige fremde Gast, der frankophile Herr, einst Objekt der Begierde des rosaroten Teenagers, wird ausgesperrt, nicht zugelassen zum sich anbahnenden familiären Glück. Man besinnt sich seines Blutes, seines eigen Fleisch und Blut. Nur der Todesstoß, der endgültige, muss dem himmlischen Geschenk noch versetzt werden, und das irdische Glück ist perfekt. Doch das Messer, auch dieses letztlich glücklich gefunden, stößt ins Holz und ins Herz des Vaters, des Zellophankindes und der rosaroten Teenagertochter. Am Ende sind sie alle shakespearisch dahingerafft, und der Zuschauer bleibt, betroffen in seinen Sessel gepresst, zurück. Wo ist die Hoffnung, die uns glücklich in die Zukunft schreiten lässt? Wo ist das Gute? Ach diese ewig schwarzsehenden, pessimistischen Deutschen…Wo sich Fische doch so einfach mit der Hand fangen lassen.

Von Sylvia Scholz

11/05/07

Teilen mit:

Все самое актуальное, важное и интересное - в Телеграм-канале «Немцы Казахстана». Будь в курсе событий! https://t.me/daz_asia