Jakob Grinemaer, Unternehmer und Leiter der Firma „Awtoplus“ hat ein beneidenswertes Hobby: als Autor und Generalpartner verlegt er bereits seit einem Jahrzehnt in Slawgorod und Barnaul Werke russlanddeutscher Autoren. Vor kurzem erschien in Slawgorod das Buch „Mein Heimatland, ich bin mit dir“, das dem 100. Geburtstag des bekannten Poeten, Übersetzers und Journalisten Friedrich Bolger gewidmet ist und dem Leser sämtliche Gedichte, Prosawerke sowie Schwänke des großen russlanddeutschen Intellektuellen vorstellt.

Man fragte einst die international bekannte Tänzerin Anna Pawlowa, was sie mit ihrem Tanz eigentlich ausdrücken wolle. Laut Legende sollte sie geantwortet haben: Wenn ich das sagen könnte, hätte ich es nicht nötig, zu tanzen.

Friedrich Bolger – gefeierter Schriftsteller, bekennender Wolgadeutscher, leidenschaftlicher Lyriker, einfühlsamer Übersetzer, angesehener Journalist, profunder Kenner des wolgadeutschen Dialekts und Literaturwissenschaftler hatte es auch nicht nötig, Kommentare zu seinem Schaffen zu geben. Und wenn schon jemand sehr aufdringlich darauf bestanden hätte, hätte er sich höchstwahrscheinlich wie Pawlowa geäußert: Alles, was ihn im Leben bewegte, hielt er nur aus einem Grund auf Papier fest – weil er es nötig hatte, zu schreiben.
Friedrich Bolger war ein Poet mit Leib und Seele. Er schilderte Gefühle, die sich seiner bemächtigten: Momente des Glücks und der Trauer, des Heimwehs und der nie in Erfüllung gegangenen Hoffnungen:

Mein Heimatland! Mein Wolgastrand!
In weiter, weiter Ferne
denk ich, verrufen und verbannt,
umwogt von heißem Wüstensand,
an deine hellen Sterne,
an deine Bäche himmelblau,
an deine trauten Lieder,
an deine Flur im Morgentau…
O Wolgagau, o Heimatau,
Wann sehen wir uns wieder?

„Einer unserer besten Lyriker…“ bezeichnete ihn 1963 die Koryphäe der russlanddeutschen Literatur, Schriftsteller und Pädagoge Viktor Klein, während eines Treffens der beiden Freunde in Nowosibirsk. „Glaubst doch nicht, dass ich dir schmeichele? Liegt mir fern“, meinte der Experte, als Friedrich Bolger entrüstet diese Behauptung zu erwidern versuchte. Viktor Klein wusste, wovon er sprach: In der russlanddeutschen Literatur ist Friedrich Bolger in allen literarischen Gattungen vertreten und in jeder einzelnen klingt er unvergleichlich – brillant und beeindruckend.

Er besaß so viele verschiedene Talente in ausgeprägter Form, dass es einem schwerfällt, ihn auf nur einige wenige festzulegen.

Als Journalist veröffentlichte er 1957 seinen ersten Beitrag in der „Roten Fahne“ und war längere Jahre als Redakteur dieses Blatts bekannt. Als Literaturwissenschaftler führte er in der Zeitung „Freundschaft“ die Kolumne „Schriftsteller über ihr Schaffen“, in der er über das Werk seiner Kollegen Woldemar Spaar, Alexander Brettmann, Woldemar Eckert, Ewald Katzenstein und vieler anderen berichtete. Im „Neuen Leben“ und verschiedenen russischen Medien publizierte er als Literat Erzählungen, Gedichte, Schwänke.

Seine Poesie wurde von den russlanddeutschen Komponisten Emanuel Jungmann, Friedrich Dortmann, Alexander Lenhardt und vielen anderen vertont und klang von der Bühne in der Darbietung bekannter russlanddeutscher Laiengruppen und Solisten. Es waren dies Schöpfungen eines begnadeten Dichters, die sich von vornherein als Lieder eigneten und gerne gesungen wurden. Ein kurzes Gedicht, vertont von Emanuel Jungmann („Heimatliche Fluren“, 1984, Verlag „Kasachstan“), vermittelt uns Gefühle, die auf den ersten Blick nur ein ungewöhnliches Naturbild schildern: Ein blühendes Blumenbeet, das unerwartet von Schnee und Eis heimgesucht wird. Doch die bescheidenen Zeilen des Dichters beziehen sich nicht allein auf diese unerbittliche Erscheinung, sie beinhalten auch eine gewisse philosophische These, die auf der Überlebenskraft beruht:

O Wunderbild, wenn junges Grün
zur Sonne drängt durch Schnee und Eis!
Es schien viel schöner noch zu blühn
mein Beet im Schnee, bezaubernd weiß.

Seine Leistungen als Nachdichter zahlreicher Verse bekannter Klassiker und Zeitgenossen sind bemerkenswert. Ende der Neunziger erschien in Berlin unter der Redaktion von Leo Koschut ein dreibändiges Sammelwerk von Sergej Jessenin. Darin sind die erfolgreichsten deutschen Übersetzungen von Jessenis Lyrik ab den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts enthalten. In allen drei Bänden finden wir auch zahlreiche Übersetzungen von Friedrich Bolger. Seine Jessenin-Nachdichtungen werden noch heute als durchaus gelungene Leistungen geschätzt. Es liegt vermutlich daran, dass er ebenso tief und nachdrücklich fühlte und handelte wie der zartbesaitete russische Lyriker selbst…

Der vor kurzem von uns gegangene Literaturkritiker, Schriftsteller und Übersetzer Herold Belger, nannte Bolger einen „Lyriker und einen der bedeutendsten Übersetzer von Puschkin und Tjuttschew“. Unter den diversen deutschen Versionen des als Romanze gesungenen Gedichts „An Anna Kern“ von Alexander Puschkin, gehört Bolgers Nachdichtung bislang zu den besten. Er lebte sich hier in die feinsten Nuancen der russischen Sprache buchstäblich ein und schuf etwas. was dem Original sehr nahesteht:

Ich denk an jene schönen Stunden,
wo ich dich sah zum ersten Mal.
Wie einen Traum, der bald entschwunden,
der reinsten Schönheit Ideal.

Bolgers Werke haben Format, sie sind sprachlich stark, gefühlvoll und realistisch. Die Menschen darin stammen aus unserer Mitte und sprechen unsere Sprache, die uns durch ihre dialektale Bildhaftigkeit verbindet und einander näherbringt. Gespannt folgen wir den dörflichen Situationen, die der Erzähler Friedrich Bolger in einer saftigen Mundart schildert. Seine Schwänke sind kurz, voller jahrhundertelanger Bauernweisheiten, die das Dorfleben bestimmen und deren Regeln man zu folgen hat.

Prosaschriftsteller und Poeten, ja Künstler allgemein, werden zu Lebzeiten nicht oft mit Ehrungen bedacht. Wir haben es noch nicht gelernt, sie als Repräsentanten unserer eigenen Kultur und Bildung zu sehen.

Das neulich in Slawgorod (Region Altai), erschienene „Mein Heimatland, ich bin mit dir…“ führt zu neuen Erkenntnissen und eröffnet unerforschte Horizonte. Es klingt wie eine Mahnung, als wollte es erneut sagen, wie vergänglich das Leben ist und wie wichtig es wäre, Bolgers Worte „Ich merkte nicht, wie schnell die Zeit verging“ persönlicher und ernster zu nehmen.

Rose Steinmark, Münster

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