In Nordkasachstan schlafen die Bewohner des Dorfes Kalatschi plötzlich ein und klagen über Halluzinationen sowie Schwindelanfälle. Nach Tagen wachen sie wieder auf, als wäre nichts gewesen. Was wie aus einem Drehbuch einer zeitgenössischen Dornröschen-Verfilmung klingt, passiert wirklich. Nun beginnt die Evakuierung der ersten Bewohner.

Die ersten Familien sollen bis Ende Januar das „Dornröschen-Dorf“ verlassen. Hier passiert etwas, das sich selbst Ärzte und Forscher nicht erklären können: Die Bewohner des 600-Einwohner-Dorfes Kalatschi im Bezirk Akmola befällt eine seltsame Schlafkrankheit. Seit mehr als einem Jahr berichten russische und kasachische Medien ständig über dieses mysteriöse Phänomen. Die Berichte klingen wie eine Neuauflage von Dornröschen oder wie aus einem Drehbuch für einen Horror-Film über Massenerkrankungen. Dorfbewohner fallen auf der Stelle um, verlieren die Kontrolle über ihre Bewegungen, schlafen zwei oder drei Tage lang und werden dabei von Halluzinationen– und Schwindelanfällen geplagt.

Schlaf-Epidemie in Kasachstan

Ein Opfer dieser ominösen Krankheit ist Alia Kuruchtina. Die 59-jährige lebt eigentlich in Nowosibirsk. Sie war über die Weihnachts– und Neujahrsfeiertage zu Besuch bei ihren Verwandten, die in Kalatschi leben. Ihr Bruder holte sie vom Bahnhof ab und brachte sie nach Hause, wo sie sich ab dem 28. Dezember bis Anfang Januar aufhielt. Dort feierte sie zusammen mit ihrer Schwester, ihrem Bruder und ihrer Mutter Neujahr. Am 2. Januar wurde aufgeräumt. Alia Kuruchtina ging auf den Hof, um den Teppich auszuklopfen. Danach schlief sie ein. Nach einer Stunde ließ sie sich nicht mehr wecken und wurde ins Krankenhaus gebracht. Von dort wurde sie, zusammen mit vier weiteren schlafenden Patienten nach Astana geflogen. Die Diagnose: Enzephalopathie. Dieser Fachbegriff beschreibt eine Fehlfunktion des Gehirns. Doch woher hat Alia Kuruchtina plötzlich diese Beschwerden? Dies konnte ihr kein Mensch erklären, denn die Ärzte stellten eine „Enzephalopathie mit unbekannter Ursache“ fest. „Ich habe wohl drei Tage geschlafen und kann mich an nichts erinnern“, teilte sie der „Komsomolskaja Prawda“ mit.

Seit zwei Jahren erliegen die Dorfbewohner schubweise der ominösen Schlafkrankheit. Die ersten Fälle wurden im Frühjahr 2013 bekannt. Dorfbewohner klagten über Koordinationsstörungen und Müdigkeit. Nach zwei, drei Tagen gingen die Symptome vorüber. Im Sommer 2014 gab es eine zweite Welle des lethargischen Phänomens. Seit Ende Dezember scheint es eine dritte Erkrankungswelle zu geben. Derzeit befinden sich 30 Menschen in ärztlicher Behandlung.

Verdacht auf Verstrahlung

Im “Dornröschen-Dorf” schlafen Bewohner plötzlich ein. Ärzte forschen nach der Ursache. | Bild: screenshot/youtube/pervij kanal evrazija

Die Ursachen dafür sind nicht bekannt. Ärzte konnten keine hinreichenden Erklärungen für die plötzlichen Schlafattacken des 600-Seelen-Ortes, 250 Kilometer vor der russischen Grenze finden. Ebenso wurden keine Bakterien oder andere Krankheitserreger im Boden, Wasser oder in der Luft gefunden. In der Tat können Vergiftungen „Enzophalophatie“ hervorrufen. Doch kein Arzt oder Forscher hat dies im Zusammenhang mit dem „Dornröschen-Dorf“ offiziell bestätigt.
Dagegen hegt man den Verdacht, dass Radon-Gas oder erhöhte Strahlenwerte die Ursache allen Übels seien. Eine offizielle Bestätigung über schädliche Strahlungen, die aus der Mine kommen, gibt es nicht. Seit den 60er Jahren wurde in Kalatschi Uran gefördert. Die Mine ist 1992 stillgelegt worden. Der Vize-Minister für Energie der Republik Kasachstan, Bakytschan Dschaksaliejew, bestreitet, dass es eine Verbindung zwischen der Mine und der ominösen Schlafkrankheit gibt. „In Kalatschi werden die Strahlenwerte zur Sicherheit der Dorfbewohner regelmäßig gemessen. Unser Strahlenschutz-Monitoring verzeichnet keine erhöhten Werte“, versichert der Vize-Minister.

Dennoch ist das Problem längst bekannt. Es wurde eine Kommission gegründet, die weiterhin nach der Ursache der mysteriösen Krankheit forscht. Dafür sollen an die Dorfbewohner Medizin-Pässe ausgegeben und auch die ökologischen Werte in Kalatschi ständig kontrolliert werden.

„Natürlich wusste ich, was in Kalatschi passiert. Ich habe dort meine Kindheit verbracht und die gleiche Luft geatmet wie die anderen Dorfbewohner“, sagt Alia Kuruchtina. Ihr Fall beweist, dass die mysteriöse Schlafepidemie den Experten Rätsel aufgibt. Eines davon ist zum Beispiel, dass viele der Schlaf-Patienten aufwachen, als sei nichts gewesen.

Erste Evakuierungen

Dieser Umstand lässt den kasachischen Schlafforscher Michail Poluektow an der Ernsthaftigkeit der Krankheit zweifeln. Gegenüber den Journalisten von „Kasachstan Today“ spricht er seine Vermutungen aus, dass es sich bei den Schlafattacken um eine Massentrance oder gar Massenhysterie handele. Bisher gab es solche Vorfälle nur im Kino zu beobachten. Eine unerklärbare Schlaftrunkenheit – das klingt wie aus einem Märchen oder Horrorfilm. Auch wenn es keine offizielle Ursache dafür gibt, die Bewohner des „Dornröschen-Dorfes“ werden nun evakuiert.

Bereits acht Familien haben laut einem Bericht der Zeitung „Nowoje Pokolenije“ das „schlafende Dorf“ verlassen. Die Evakuierung der restlichen Bevölkerung soll im Mai dieses Jahres vollendet sein. Dafür kämpft der Bürgermeister des Bezirks Akmola Sergej Kulagin. „Ich bin bis zur Führungsetage unseres Landes vorgedrungen, und man hat das Problem verstanden. Doch es dauert immer, bis Geld zur Verfügung steht“, erklärt Kulagin. Er brauche mindestens zwei Milliarden Tenge (ca. 9,3 Mio. Euro), um wenigstens ein paar Familien in der ehemaligen Kaserne im 150 Kilometer entfernten Dorf Derschawinsk unterzubringen.

Von Dominik Vorhölter

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