Wenn man was erleben oder die Welt erobern will, muss man eine Reise tun. Dafür braucht man aber nicht vor die Tür zu gehen, das kann man auch im Kopf vollführen. Was man einzig dafür braucht: ein übereifriges Hirn.

Ich will mich beruflich verändern, doch weiß ich erst andeutungsweise, was es werden soll. Klar ist, dass ich meine Selbständigkeit nicht aufgeben, gerne promovieren und mich weiterbilden möchte. Ich suche in den Stellenanzeigen Anregungen. Mal sehen, was die anderen so machen, welche Kompetenzen und Dienstleistungen der Markt braucht und wie ich mich in das Geschehen einschlawinern könnte. Nur mal so gucken.

Aber na so was! Da sind ja viele ungeahnte interessante Stellenangebote, auf die ich mich glatt bewerben würde, wenn ich nicht … Doch zu spät! Mein ewig übereifriges Hirn, das den anderen Bestandteilen meines Ichs nie richtig zuhört und geflissentlich den Konjunktiv ignoriert, gerät in hektischen Aktionismus. Es ordnet an, Bewerbungsschreiben zu verfassen, und noch bevor die erste Zeile geschrieben ist, wägt es schon die Optionen ab: Wo gehen wir denn hin? Nach Flensburg, Hannover, Bonn, Düsseldorf, Berlin… Und weil es von Berlin nach Kiew dann auch nicht mehr weit ist, warum also nicht in die Ukraine? Und wenn wir schon bis zur Ukraine gehen, warum dann nicht noch weiter?

Eben, findet auch mein ehemaliger Student, „komm doch einfach nach Wladiwostok.“ Dass das alles einfach ist und wir uns nur noch entscheiden brauchen, obwohl mir noch gar keine Stelle angeboten wurde, weil wir ja die Bewerbungen noch gar nicht geschrieben, geschweige denn weggeschickt haben, erscheint mir ein wenig voreilig. Auch, dass Wladiwostok nicht bei den Stellenangeboten war, also unklar ist, von was ich mich dort ernähren soll, scheint niemandem aufzufallen. A propos ernähren, in Abwesenheit von Logik muss der Bauch ran.
„He, Bauch, was hältst du von Wladiwostok?“ Au ja, auf geht’s! vermeldet mein Bauch.

Siehste! sagt mein Hirn. „Die Welt steht dir offen, du musst nur noch hingehen!“ Ja, doch, hört und fühlt sich gut an, muss ich zugeben. Siehste! sagt mein Bauch. Doch bevor ich die Koffer packe und hier alle Zelte abbreche, gehe ich der Sache noch mal auf den Grund.
Ich wüsste schon gern, wie das denn gehen soll, binnen nur eines Monats die Stadt oder das Land zu wechseln, einer Vollzeitstelle nachzugehen und gleichzeitig das Promotionsvorhaben zu verfolgen, aber auch die Selbständigkeit weiterzubetreiben, die Weiterbildung nicht zu vergessen. Gar kein Problem, findet das Hirn. Geht schon irgendwie, meint der Bauch. Mach dich locker! sagen beide. Ich will hier ja nicht die Spaßbremse abgeben, aber wenn ich so was Ähnliches wie ein Grobkonzept vorgestellt bekomme, das zumindest eine meiner Fragen beantwortet, fange ich mit dem Lockersein sofort an, versprochen. Hirn und Bauch zucken mit der Schulter, reichen aber kein Konzept ein.

Während wir uns weiter über Wladiwostok streiten, verstreichen die Bewerbungsfristen für die Stellen in Deutschland und Kiew. Aha, alles klar! Mein Unterbewusstsein will eh nicht weg und sitzt sowieso am längeren Hebel. „He, das ist unfair!“ beschwert sich mein Hirn, „das Unterbewusstsein ist viel stärker als wir“. Aber das Unterbewusstsein ist auch nicht so vergesslich wie das Hirn und erinnert uns an das Motto der Aktion: Nur mal so gucken! Mehr sollte es nicht werden, und mehr wird es jetzt auch nicht. Und jetzt können wir uns alle wieder beruhigen.

Julia Siebert

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