Viele Sowjetdeutsche teilen sich das schwere Schicksal der Zwangsumsiedlung und die Verluste, die damit einhergingen. Die Geschichte von Elsa Beidel erzählt von einer Frau, die den frühen Verlust der Eltern, Kälte und Hungersnot überstanden hat und nach der Rückkehr nach Deutschland endlich ihren taubstummen Zwillingsbruder wiederfindet.

64 Jahre hat Elsa Beidel auf diesen Augenblick gewartet. Darum gebangt, ob sie ihren taubstummen Zwillingsbruder je wiedersehen würde. Am 80. Geburtstag der beiden dann schließlich der langersehnte Moment: „Da sind Träne’ vor Freude geflosse’!“, erinnert sich die inzwischen 82-Jährige an die Geburtstagsfeier auf den Taläckern, einer Siedlung in der schwäbischen Kleinstadt Künzelsau. Sie ist sichtlich gerührt.

Elsa blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Ihr Schicksal ist die Geschichte vieler Russlanddeutscher, 1941 das Jahr, welches alles veränderte. „Das Jahr, das kann man nicht vergessen“, sagt Elsa heute. Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin war beschlossene Sache. Trotzdem griff Hitlerdeutschland die Sowjetunion an – mit verheerenden Folgen für die zahlreichen Sowjetdeutschen. Diese hatten sich – einem Aufruf der russischen Zarin Katharina der Großen folgend – vor allem im Wolgagebiet angesiedelt. Auch in der Ukraine, wo Elsa aufwuchs, gab es deutsche Siedlungen. Von klein auf wurde sie dort in ihrer Kultur und Sprache erzogen. „Mama und der Papa haben immer alle Deutsch geschwätzt“, schmunzelt sie, „und meine Eltern haben immer gesagt: Wir sind Schwaben.“ Lange Zeit ging es den Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion gut – sie konnten ihre Kultur und Sprache ausleben, sogar eine Wolgadeutsche Republik wurde unter Lenin gegründet.

Zwangsumsiedlung nach Nordkasachstan

Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Angriff von Hitlers Truppen änderte sich dies jedoch schlagartig. Als Faschisten seien sie beschimpft worden, erinnert sich Elsa. Der 28. August 1941 ist der wohl schwärzeste Tag ihrer Geschichte: der Oberste Sowjet befahl, alle Deutschen wegen des Verdachts der Zusammenarbeit und Spionage umzusiedeln. Elsas Vater wurde in ein Arbeitslager gesteckt. Da war sie elf Jahre alt. Elsa sah ihn nie wieder.

Indes wurde sie mit ihrer Mutter, ihrem Zwillingsbruder, weiteren zwei Geschwistern und unzähligen anderen, die dasselbe Schicksal ereilte, in einen Viehwaggon gequetscht. Da werden unangenehme Erinnerungen wach: „Die waren vollgestopft mit Leuten!“ Insgesamt zählte der Zug 64 solcher Waggons. Jedem Passagier standen 20 Kilogramm Gepäck zu. „Was kann man da mitnehme’?“, empört sich die sonst gelassene Seniorin und nippt an ihrem Kaffee. Ein bisschen zum Umziehen und ein bisschen zum Essen, für mehr reichte es nicht. Die Fahrt ins Ungewisse dauerte einen Monat. Nicht alle überlebten sie. Neben Hunger und Kälte hatten die Passagiere auch mit anderen Problemen zu kämpfen: „Wir sind unter den Bomben hergefahren, das war gefährlich“, bemerkt die Taläckerin. Als sie im November schließlich in Pawlodar im Norden Kasachstans ankam, erwartete sie bereits der sibirische Winter. Elsa ist die Bitterkeit anzumerken: „Da muss man Stiefel haben, und wir haben doch nichts gehabt!“ Was sie dabei hatte, tauschte die Familie gegen „ein Schüsselchen Kartoffeln.“ Und trotzdem reichte es nicht. Zwei Jahre später musste Elsas Mutter den Hungertod sterben. So musste das Mädchen bereits im Alter von 13 Jahren lernen, Verantwortung zu übernehmen: „Ich musste alleine gucken, wie ich rauskam, das Brot verdienen.“ Die Taläckerin schlug sich tapfer, jobbte erst in einer Melkerei und dann in einem Krankenhaus. Auch ihren späteren Ehemann lernte die inzwischen dreifache Mutter in Pawlodar kennen.

Unverhofftes Wiedersehen

Ihr Bruder war hingegen im Waisenhaus untergebracht. Irgendwann sei eine Frau gekommen und hätte ihn mit nach Lettland genommen. Bis vor zwei Jahren wusste Elsa nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Wie viele Russlanddeutsche zog auch sie 1992, nach Öffnung der Grenzen, zurück nach Deutschland – erst nach Bayern, dann auf die Taläcker in die Nähe ihrer Tochter. Die sechsfache Uroma freut sich: „Ich bin zufrieden mit allem, ich wohne im Paradies!“

Der Tag, als ihr Zwillingsbruder plötzlich unverhofft vor der Tür stand, war wohl einer ihrer glücklichsten. Elsa hatte der russischen Fernsehsendung „Schdi menja“ (etwa „Erwarte mich“) einen Brief nach Moskau geschrieben. Trotz Taubstummheit wurde ihr Bruder schließlich in Lettland ausfindig gemacht. Elsa strahlt. Jetzt hofft die Sowjetdeutsche auf einen positiven Aufnahmebescheid für seine Immigration nach Deutschland, „dass wir uns die letzten Jahre noch öfter treffen können!“

Von Christine Faget

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