Clara Momoko Geber, Japanologin und Slawistin, begab sich in der ersten Jahreshälfte auf die Suche nach InformantInnen zum Thema „Japanische Kriegsgefangene in Kasachstan und ihre Hinterlassenschaften“. Die stärkste Korrelation zwischen Kasachstan und Japan bestand im Zweiten Weltkrieg, als japanische Soldaten in sowjetischen Gefangenenlagern festgehalten wurden. Diesem Recherchethema ging sie in Kasachstan in Archiven, Expertengesprächen und Ortsbesichtigungen nach. Ihre Ergebnisse fasst sie in Form einer Artikel-Serie für die DAZ zusammen. Diesmal geht es um die Umstände der Lagerhaft.

[…] Die ersten japanischen Soldaten kamen am 5. Oktober 1945 in Kasachstan an. Gemeinsam mit ihnen waren auch Deutsche, Italiener, Finnen und Rumänen interniert. Die Kriegsgefangenen wurden in sogenannten „Lagern“ festgehalten; dabei handelt es sich um Erdflächen, die von zwei bis drei Meter hohen Stahlzäunen umgeben wurden. Ihre Lage wurde aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen bestimmt und je nach Bedarf wurden sie in der Stadt oder in der Steppe Kasachstans errichtet.

34 der 71 Lager für japanische Gefangene in der Sowjetunion befanden sich im Fernen Osten und im östlichen Sibirien. Verlegungen in andere Lager erfolgten häufig, meist wegen wirtschaftlicher oder gesundheitsbedingter Gründe, wie beispielsweise wegen Typhus. Im heutigen Kasachstan wurden etwa 50.000 japanische Kriegsgefangene zu Zwangsarbeit verpflichtet, die in 14 Lagern festgehalten wurden. Allein vier der 14 Kriegsgefangenenlager waren in Karaganda.

Die Gebäude wurden zur Erfüllung der Bedürfnisse von Gefangenen unterschiedlich konzipiert. Meist waren es Ziegelbauten, seltener Betonbauten. Im Lager in Karaganda waren sehr viele Deutsche schon länger interniert, daher war die dortige Infrastruktur bei der Ankunft der japanischen Gefangenen bereits fortschrittlich und es gab eigene Schlafräume, Krankenstationen, Kantinen etc.

Leben im Lager

In den Lagern angekommen, wurden die Kriegsgefangenen zuerst untersucht. Dabei mussten sie sich zur Gänze ihrer Kleidung entledigen und ihre Besitztümer vorzeigen. Waffen oder Schmuckstücke wurden sofort konfisziert.

Für die Zwangsarbeit wurden von sowjetischen Offizieren bevorzugt jüngere Soldaten ausgesucht. Deshalb lag das Alter der japanischen Kriegsgefangenen zwischen 18 und 45 Jahren. Nach der Untersuchung wurden die Gefangenen in vier Klassen aufgeteilt: Die erste Klasse bestand aus den gesündesten Personen, die schwere körperliche Arbeit ausüben konnten, die Soldaten der zweiten wurden für normale körperliche Arbeit als geeignet befunden, die dritte nur für Aufgaben innerhalb des Lagers. Die vierte und letzte Klasse bestand aus Personen, die auf der Krankenstation medizinisch versorgt werden mussten.

Die gesundheitliche Verfassung der Gefangenen verschlechterte sich rasant aufgrund der schweren körperlichen Arbeit und der psychischen Belastung. Deshalb wurden alle ein bis zwei Monate Untersuchungen durchgeführt und die Soldaten in neue Gruppen eingeteilt. Zwar wurden Infektionskrankheiten oder Fieber als Grund für eine Arbeitsunfähigkeit anerkannt, allerdings wurden andere Gesundheitsprobleme, z.B. Rheuma oder Neurosen, ignoriert.

Neben den unhygienischen Lebensstandards auf engstem Raum, der Nahrungsmittelknappheit und daraus resultierenden Krankheiten war die Kälte in der Region Sibiriens ein großes Problem. Nach den WHO-Normen sind für Schwerarbeit täglich etwa 3100 bis 3300 Kilokalorien Nahrung erforderlich. Dem Japanologen Dr. Dähler zufolge gab es in den Lagern jedoch nur Nahrung mit etwa 1100 bis 1300 Kilokalorien pro Person. Die Menge der ausgeteilten Essenrationen sowie die Auswahl an unterschiedlichen Speisen wurden aufgrund der schlechten Organisation innerhalb der Lager meist ungerecht verteilt. Erst im Jahre 1948 wurde in der Sowjetunion ein System der Nahrungsmittelausgabe definiert und flächendeckend eingeführt.

Im Winter konnte die Kälte bis zu minus 40 Grad Celsius erreichen. In vielen Baracken Kasachstans gab es mit Kohle beheizte Kleinöfen, genannt „pechka“ (печка). Da die meisten Kriegsgefangenen in Karaganda in Kohleminen arbeiteten, konnten sie Kohle stehlen und damit die Baracken heizen. Aufzeichnungen beschreiben, dass die dadurch erzeugte Wärme es sogar erlaubte, nur mit einer einzigen Decke zu schlafen, ohne frieren zu müssen.

Die Gefangenen wurden zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen. Meist waren sie in Kohle-, Silber-, Blei- und Kupferminen, Tabakplantagen oder Apfelplantagen eingesetzt. Die Arbeit erfolgte in drei Schichten, die jeweils von 8 Uhr bis 16 Uhr, von 16 Uhr bis 24 Uhr und von 0 Uhr bis 8 Uhr gingen. Je nach Arbeitsfähigkeit der Gefangenen wurde auch das Essen rationiert. Falls durch Schwächeanfälle oder Krankheiten keine ausreichende Arbeit möglich war, wurde zur Strafe auch die Menge an Essen verringert.

Kunst- und Kulturleben

Nach dem zweiten Jahr wurde ein Gehaltssystem innerhalb der Lager eingeführt. Die Gefangenen erhielten etwa 100 Rubel pro Monat und konnten mit diesem Geld in der Stadt auf Basaren einkaufen. Als die Japaner neben dem Gehalt auch Freizeit zugeteilt bekamen, stieg das Interesse an der Beschäftigung mit Kunst und Kultur. Beispielsweise wurden im Lager im damaligen Alma-Ata (heute Almaty) der Verein „Aratau Haiku-Gruppe“ (Haiku ist eine traditionelle japanische und gleichzeitig die kürzeste Gedichtform der Welt) und im Lager in Karaganda ein Baseball-Club gegründet. Überdies wurden aus Holz Spielsteine für Gō (ein japanisches Brettspiel) und Mah-Jongg (ein chinesisches Gesellschaftsspiel) hergestellt. Besonders beliebt war es, selbst Instrumente zu bauen und damit zu musizieren oder zu schauspielern.

Es wurde auch ein Klavier repariert, das in der Nähe des Lagers gefunden worden war. Dadurch etablierte sich nach einiger Zeit die Tradition, in den Lagern Konzerte, Ballettstücke oder Schauspiele aufzuführen, was zu einer Verbundenheit zwischen den Soldaten unterschiedlicher Nationalitäten führte. Obwohl die Sterblichkeit der Zwangsarbeiter in der Sowjetunion durchschnittlich bei 10% lag, waren es in Kasachstan nur 2,5%. Dies lässt darauf schließen, dass die Bedingungen in diesem Bereich weitaus menschlicher waren, als in anderen Regionen der Sowjetunion. […]

Die Fortsetzung dieses Beitrags lesen Sie in der nachfolgenden Ausgabe.

Clara Momoko Geber

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