Dr. Mark Kirchner ist Professor für Turkologie an der Professur für Turkologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Institut ist das einzige Westeuropas, das sich mit kasachischer Sprachwissenschaft befasst. Die DAZ sprach mit ihm und seiner Mitarbeiterin Dr. Raihan Muhamedowa.

/Bild: Ulrich Steffen Eck. ‚BU:. Raihan Muhamedowa und Prof. Dr. Mark Kirchner: „Sprachbeherrschung darf nicht zu einem Kriterium werden, mit dem man andere ausschließen kann.“’/

Wie kommt man als deutscher Akademiker auf die Idee, über die Phonologie des Kasachischen zu promovieren?

Dass diese Frage gestellt werden muss, sagt doch schon viel über den Status des Kasachischen als der Sprache eines der flächengrößten Länder der Erde aus. Niemand würde fragen, wie man auf die Idee gekommen sei, über die Phonologie des Portugiesischen oder gar des Isländischen zu promovieren.

Als Student der Turkologie bemerkte ich, dass es abseits des Türkischen und des schon damals recht beachteten Usbekischen mit dem Kasachischen noch eine riesige, weitgehend unbearbeitete Sprachfläche auf dem Atlas gibt. Kasachstan war damals noch völlig geschlossen.

Durch Zufall bin ich in Kontakt mit der kasachischen Minorität von Istanbul gekommen, die ursprünglich aus dem chinesischen Raum stammte. Ich konnte dort reichlich vier Monate leben und aktiv Kasachisch lernen. Dabei fiel mir auf, dass die Beschreibung seines Lautsystems nicht mit der Realität übereinstimmte.

Sie erwähnten, dass die kasachische Minorität in Istanbul aus China stammte. Können Sie das etwas näher erläutern?

Etwa ein Zehntel der kasachischen Population lebt im äußersten Westen Chinas, an der Grenze zu Kasachstan. Während des chinesischen Bürgerkrieges, noch vor Mao Tsetung, sind einige Tausend dieser Kasachen in einem sensationellen Ausmarsch über Tibet nach Kaschmir gezogen, wo sie nach vielen Jahren ankamen und schließlich von der Türkei aufgenommen wurden. Sie leben in der Türkei heute in kompakten Siedlungen und bewahren dort ihre Kultur und Sprache.

Wann waren Sie das erste Mal in Kasachstan?

Nach der Promotion, 1989 in der Zeit der Perestroika. Das geschah nicht ganz offiziell, denn man konnte damals nicht einfach als Tourist einreisen. Ich wurde quasi als Deutscher „kasachisiert“, indem ich von der damaligen „Obschestwo Rodina“ eingeladen wurde. Die hatte die Möglichkeit, Menschen aus der Diaspora ins Land zu holen. Und als „Exilkasache“ hatte ich die Möglichkeit, mich frei in Kasachstan zu bewegen.

Die Einladung war auch eine Dankesgeste. Zur Zeit der Sowjetunion und einer Militärregierung in der Türkei hatte ich der kasachischen Minorität in Istanbul geholfen, Bücher aus Kasachstan zu bekommen. Die türkischen Behörden hätten aus der Sowjetunion kommende Bücher nicht ins Land gelassen. „Die Obschestwo Rodina“ schickte sie also zunächst an mich nach Wiesbaden, wo ich sie dann umpackte und von meiner „unverdächtigen“ Adresse aus weiter in die Türkei schickte.

Welche Bedeutung hat das Kasachische im Rahmen ihrer hiesigen Lehre?

Die Turkologie ist bei uns wie auch anderswo – schon durch die große Bedeutung der Türkei – türkisch dominiert. Ich versuche, aus der Gruppe der 20 Turksprachen zwei weitere auf ein etwas höheres Niveau zu heben: das Kasachische und, vertreten durch unsere Partneruniversität in Kasan, das Tatarische. Diese Sprachen sind aus meiner Sicht wichtiger als man glaubt; Kasachisch schon aufgrund der aktuellen geopolitischen Bedeutung Kasachstans und Tatarisch als zweitgrößte Sprachgruppe in Russland. Dafür, wie ernst das hier genommen wird, spricht schon die Tatsache, dass unsere einzige wissenschaftliche Mitarbeiterin, Frau Doktor Muchamedowa, kasachische Muttersprachlerin ist. Darüber hinaus haben wir noch zwei Doktoranden kasachischer Nationalität aus China, ausgestattet mit chinesischen Regierungsstipendien und eine Doktorandin aus Kasachstan mit einem deutschen Stipendium, die alle über die kasachische Sprache arbeiten. Mit ihrer Arbeit und meinen Interessen ist Kasachisch momentan also durchaus die wichtigste Sprache hier. Damit füllen wir eine Lücke, denn, wenn ich nicht falsch liege, befasst sich damit in Westeuropa niemand sonst auf sprachwissenschaftlichem Niveau. Sicher gibt es Politikwissenschaftler, die sich mit Pipelines und ähnlichen Dingen in Kasachstan beschäftigen, aber die Sprache und Kultur wird wahrscheinlich nur bei uns ins Zentrum gerückt.

Wie hoch ist das Interesse bei den Studenten?

Derzeit haben wir sogar Probleme mit dem an sich sehr populären Türkisch. Wir leben in Zeiten pragmatischer Studenten, die sehr zielorientiert studieren. Zu meinen Zeiten hat man sich mehr Zeit für einen breiter angelegten Wissenserwerb genommen. Die Leute studieren jetzt in Bachelor-Studiengängen, wählen etwas aus, und das wird in drei Jahren durchgezogen. Das macht die Sache für uns schwierig. Wir haben aber begonnen, in einem Verbund mit insgesamt neun osteuropaorientierten Professuren zu arbeiten. Wir hoffen, dadurch mittelfristig mehr Interesse zu gewinnen. Aber für eine Veranstaltung mit rein kasachischer Thematik werden Sie selten mehr als eine Handvoll Studenten bekommen.

Diese Handvoll Studenten – was sind das dann für Leute: Romantiker, Ökonomen?

Das ist unsere übliche Klientel: Leute mit türkischem oder teilweise türkischem Hintergrund, die über das Türkische zu uns kommen und dann sehen, dass wir noch andere spannende Sachen anbieten. Die riechen dann mal für eins, zwei Semester hinein. Wir werden hier keinen Kasachologen ausbilden, können aber attraktiv für Leute sein, die etwas mit dem Kasachischen machen wollen. Es ist auch wichtig, dass unsere Türkisch-Studenten mitbekommen, dass es noch Sprachen gibt, die mit dem Türkischen etwa so verwandt sind, wie das Holländische oder Dänische mit dem Deutschen.

Frau Dr. Muhamedowa, wie schätzen Sie die Popularität der Geisteswissenschaften in Kasachstan ein?

Der Trend geht seit etwa fünf bis sechs Jahren weg von den Geisteswissenschaften, hin zu ökonomisch oder juristisch orientierten Studiengängen. Selbst Deutschlehrer machen ein zweites Studium und wechseln den Beruf. Auf der anderen Seite gibt es Regierungsprogramme, wie zum Beispiel „Kulturnoje Nasledije“. In deren Rahmen werden zum Beispiel geisteswissenschaftliche Monographien neu verlegt. Das betrifft von der Regierung gewünschte Bereiche, wie den der kasachischen Geschichte, Sprache und Literatur. Einzelne Universitäten werden im Bereich der Geisteswissenschaften auch direkt gefördert; beispielsweise die Al-Farabi-Universität in Almaty oder die Eurasische Universität in Astana. Dort stehen auch für Kasachologen Gelder bereit.

Herr Prof. Dr. Kirchner, was halten Sie von der gegenwärtigen Sprachenpolitik in Kasachstan?

Generell ist es heikel, wenn die staatliche Förderung einer Sprache eine chauvinistische Konnotation bekommt. Es dürfen keine geschlossenen Gruppen entstehen, an die man ohne die Beherrschung des Kasachischen nicht mehr herankommt. Sonst könnten viele ungünstige Effekte entstehen, beispielsweise die Abwanderung von Fachkräften.

Tatsächlich aber ist das Kasachische aus historischen Gründen im eigenen Land in einer so schwachen Position, dass es zunächst gefördert werden muss, um überhaupt in die Lage zu geraten, eine angemessene Funktion ausüben zu können. Denn erst, wenn die nicht ethnisch kasachischen Bewohner Kasachstans sich bemühen, diese Sprache als etwas Wertvolles zu begreifen, wird es auch den Kasachen wieder leichter fallen, die parallele und fortlaufende Existenz des Russischen als normal und positiv zu betrachten. Ich selbst war als Orientalist in den ehemaligen französischen Kolonien Nordafrikas und habe dort ähnliche Kämpfe miterlebt. Der Versuch, das Arabische unter Zwang zu etablieren, hat nur Schaden verursacht.

Wichtig ist, das Eigene zu entwickeln, ohne das Andere zu zerstören. Das ist einerseits schwierig, andererseits gibt es ja Staaten, die gut mit Mehrsprachigkeit leben. Man darf sich nicht an der Türkei orientieren, sondern sollte sich an der Schweiz ein Beispiel nehmen. Man muss das Kasachische attraktiv machen. Das schafft man nicht, indem man bestimmte Berufe ethnisch monopolisiert. Ein landesweites Kurssystem ist vonnöten, in dem man nach modernen Methoden gut und einfach Kasachisch lernen kann. Andererseits müsste die ethnisch russische Bevölkerung eine höhere Bereitschaft zeigen, Kasachisch zu lernen. Diese historisch dominante Gruppe sieht das Kasachisch oft als arme Sprache an, die zu lernen sich nicht lohne. Ich kann Ihnen als Entgegnung darauf ein zehnbändiges einsprachiges Kasachisch-Wörterbuch zeigen. Das Kasachische ist ja auch während der Sowjetzeit so funktional entwickelt worden, dass es in der Lage ist, alles zu transportieren.

Wir haben übrigens gerade zu Themen wie Sprach-Image und Attitüde zu einer Sprache ein DFG-Forschungsprojekt beantragt.

Wie wünschen Sie sich das deutsch-kasachische Verhältnis für die Zukunft?

Dr. Muhamedowa:
Die Deutschen haben kasachische Universitäten für sich sehr spät entdeckt. Ich hätte mir mehr Engagement von der deutschen Seite direkt in Kasachstan gewünscht, denn dort sind seit langem genug Potential und Interesse da. In Deutschland selbst ist das Interesse an Kasachstan nicht unbedingt groß. Ich würde mir hier also mehr Information über Kasachstan wünschen, damit es nicht nur als das Land angesehen wird, aus dem Russlanddeutsche kommen.

Prof Kirchner: Nicht umsonst gab es in Berlin eine Konferenz zum Image Kasachstans. Man weiß hier mehr oder weniger, dass von da Rohstoffe kommen und Menschen abwandern. Das ist traurig, angesichts der vielen spannenden Aspekte, die das Land bietet. Von der kasachischen Seite wünsche ich mir mehr Unterstützung für die wenigen Aktivitäten, die hier unternommen werden, um etwas Kasachisches jenseits von Erdöl und Big Business zu vermitteln. Während die Türkei die Turkologie überall auf der Welt fördert, kommt da aus Kasachstan bislang wenig. Und die deutsche Fixierung auf Russlanddeutsche und Rohstoffe ist sehr schädlich.

Das Interview führte Ulrich Steffen Eck

16/01/09

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