Die Geschichte der heutigen kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan ist eng verbunden mit Chruschtschows Projekt der Neulandgewinnung. Damals strömten abenteuerlustige Menschen in die leeren Gegenden der Sowjetunion, um das fruchtbare Land zu bewirtschaften. In Almaty erinnerte ein Kino an das Projekt. Mit über 1.500 Plätzen war es eines der größten der Stadt.

„Jugend, ab nach Neuland!“ – Diese Worte soll Nikita Chruschtschow im Jahr 1954 seinem Publikum zugerufen haben. Es war das Motto der sogenannten Neuland-Kampagne, die der Erste Sekretär der KPdSU ab den frühen 1950er Jahren initiierte, um der schwächelnden Landwirtschaft der Sowjetunion neuen Aufschwung zu verleihen. Die weiten Steppengebiete rechts der Wolga, im Nordkaukasus, in Westsibirien und in Nordkasachstan sollten urbar gemacht und für den großangelegten Getreideanbau kultiviert werden.

Doch nicht langjährige Landwirte, erfahrene Bauern oder Kollektivfarmer sollten dieses Unterfangen in die Realität umsetzen. Jugendliche aus der gesamten Sowjetunion wurden mit dem Versprechen auf ein sozialistisches Abenteuer zum Arbeitseinsatz in die Steppe gelockt. Und unzählige Menschen folgten dem Aufruf. Im Sommer 1954 kamen 300.000 Komsomolzen in den „Neuland“-Gebieten an.

Die „Stadt der Neulandgewinnung“ wird geboren

Die Ernte des Jahres 1954 war ein voller Erfolg und übertraf sämtliche Erwartungen. Der Ernteertrag lag 65 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 1949-1953. Die politische Führung drängte daher auf einen raschen Ausbau des Projektes. Nach einem schwachen Erntejahr 1955 sollte 1956 zum Rekordjahr und zum erfolgreichsten der gesamten Neuland-Kampagne werden. Der Ertrag lag 180 Prozent über dem Durchschnitt des Jahreszeitraums zwischen 1949-1953.

Dieses sozialistische Abenteuer sollte sich auch für die jungen Menschen bezahlt machen, die in die menschenleeren Steppengebiete kamen. Sie bekamen Zehnjahresdarlehen vom Staat für den Wohnungsbau gestellt. 1960 organisierte Chruschtschow im Norden der Kasachischen SSR die aus fünf Provinzen bestehende Verwaltungseinheit Zelinnyj-Kraj – „Neuland-Region“. Das Provinzkaff Akmolinsk wuchs rasant, wurde in Zelinograd, „Stadt der Neulandgewinnung“, umbenannt, und zur Hauptstadt des neuen Verwaltungsbezirks.

Miserable Lebensbedingungen in Gebieten der Neulandgewinnung

Neben der propagandistischen Wirkung dieser Umbenennungen und Neustrukturierungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene war das Erntejahr 1960 allerdings eines der schlechtesten während des gesamten Programms. Die Neulandgewinnung stand vor schwerwiegenden Problemen. Nicht nur waren die Lebensbedingungen im Neuland miserabel und mangelte es an Arbeitskräften. Auch die technische Ausstattung und die Reparatur- und Wartungsmöglichkeiten der Maschinen waren schlecht. Dazu kamen die harschen klimatischen Bedingungen in dem Gebiet mit wenig Niederschlag in den kurzen Sommern sowie eisigen Starkwinden in den langen, bitterkalten Wintern. Bodenerosion und Versalzung wurden zum unüberwindbaren Problem für den Getreideanbau. Die Neuland-Kampagne verlor nach 1961 mehr und mehr an Bedeutung und war spätestens ab 1964 tot.

Es mag die Ironie des Schicksals sein, dass der Begriff Neuland in eben diesem Jahr 1964 noch einmal in aller Munde sein sollte. In Alma-Ata wurde damals das Kinotheater Zelinnyj eröffnet, eine riesige Getreideähre aus Neonröhren zierte seitdem das Dach des Kinos. Welches schlussendlich die wirklichen Beweggründe waren, dem neuen Kinotheater diesen unglücklichen Namen zu verpassen, ist nicht bekannt, doch für die Kulturszene von Alma-Ata brachen in der Tat neue Zeiten an.

Dem Verfall preisgegeben

Der ehemalige Kalinin-Prospekt, auf dem bereits in den 1950er Jahren sowjetische Sternchen aus Film und Fernsehen flanierten und der deshalb unter dem Spitznamen „Broadway“ bekannt war, stieß geradewegs auf die riesige gläserne Fassade des streng rechteckigen, modernistischen Baus. Die Architekten W. Katsew und B. Tjutin erdachten ein Gebäude, welches zwei Funktionen hatte.

Zum einen versperrte es die Sicht auf die direkt dahinter liegende orthodoxe Nikolskij-Kathedrale, nachdem man inzwischen trotz des staatlich verordneten Atheismus davon absah, Kirchen schlichtweg zu zerstören. Zum anderen machte es den Blick auf ein gigantisches Wandpanorama des berühmten Grafikers Jewgenij Sidorkin frei, das moderne Interpretationen kasachischer Traditionen zeigte. Das Kino besaß einen seinerzeit gigantischen Kinosaal mit 1.536 Sitzplätzen und gehörte damit zu den größten der Stadt. Sein bestes Jahr erlebte das Kino 1982 mit über 2 Millionen Besuchern.

Doch auch diesem Kino setzten die wirtschaftlich schwierigen 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwer zu. Aus dem großen Kinosaal wurden nach einem Umbau im Jahr 2000 zwei kleine mit jeweils nur 255 Plätzen. Auch eine Diskothek zog in das Gebäude ein. Seitdem galt das Wandpanorama des Künstlers Sidorkin als verloren. Der Kinobetrieb wurde 2011 komplett eingestellt und das Gebäude war seitdem dem Verfall preisgegeben.

Ein positives Zeichen für das junge, weltoffene Almaty

Seit 2017 gibt es allerdings wieder Hoffnung für seine Zukunft. Eine Künstlergruppe um den Geschäftsmann Kairat Borangajew arbeitet seitdem in enger Zusammenarbeit mit dem Moskauer Garage Museum für zeitgenössische Kunst daran, aus dem Gebäude ein neues Zentrum für moderne Kunst in Almaty zu machen. Bei der Vorbereitung einer ersten, temporären Ausstellung 2018 stieß man auch auf das verschollen geglaubte Wandpanorama Sidorkins, welches lediglich hinter Trockenbauwänden versteckt war. Die Beschädigungen halten sich in Grenzen und die Restaurierung des Werkes wurde in den Renovierungsplan des Zelinnyj-Zentrums für moderne Kunst aufgenommen.

Zelinograd trägt heute den Namen Nur-Sultan und ist die hypermoderne Hauptstadt der Republik Kasachstan. So gesehen ging der Traum vom Neuland in der kasachischen Steppe schließlich wohl doch in gewisser Weise in Erfüllung. Die für 2020 geplante Eröffnung des neuen Zelinnyj als Kunstmuseum, welches auch weiterhin die Getreideähre als Erkennungsmerkmal beibehalten soll, lässt derweil aufgrund der aktuellen Einschränkungen noch auf sich warten. Die Restaurierung des Gebäudes und die Umwidmung des Zelinnyj in einen Kreativ- und Kunstraum ist allerdings ein positives Zeichen für das moderne, junge und weltoffene Almaty. Man kann nur hoffen, dass dies ein Beispiel für zukünftige Projekte und Umgestaltungen der historischen Bausubstanz der Stadt sein kann.

Philipp Dippl

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