Ein Sozialstaat basiert auf der Solidarität seiner Bürger. Die Menschen müssen bereit sein, einen Teil ihres Gehalts an den Staat abzugeben, damit dieser das Geld an die Gesellschaft, nämlich Arme, Kranke und Alte verteilen kann. Doch genau an dieser Bereitschaft mangelt es in Kasachstan.

Die kasachische Verfassung von 1995 legt fest, dass Kasachstan ein Sozialstaat sein soll. Doch wie sieht es mit der Verwirklichung dieses hehren Zieles aus? Auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung diskutierten am 11. und 12. Juni Experten und Interessierte in Almaty über die Entwicklungen und Herausforderungen für Sozialstaaten. Zwar finden sich Elemente eines sozialen Staats in der Verfassung Kasachstans, so wie er in Deutschland verstanden wird, doch müssen diese Rechte oft erst noch praktisch umgesetzt werden.

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Deutsches Sozialversicherungssystem

Job verloren? Dann steht in Deutschland erst einmal der Weg ins Arbeitsamt an.
Job verloren? Dann steht in Deutschland erst einmal der Weg ins Arbeitsamt an. | Foto: flickr/freeimage4lifa

Wolfgang Schroeder, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel, präsentierte Modelle des Sozial– beziehungsweise Wohlfahrtsstaats wie sie in Deutschland und den skandinavischen Ländern existieren. In diesen Ländern ist hauptsächlich der Staat für die soziale Absicherung seiner Bürger verantwortlich. Zwei entscheidende Bedingungen für den Aufbau eines Sozialstaats liegen im Solidaritätsprinzip und einer starken Wirtschaft. Schließlich finanziert sich der Sozialstaat aus Steuereinnahmen.

Das deutsche System basiert auf den von Otto von Bismarck in den 1880er Jahren eingeführten Sozialversicherungen, die eine Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung umfassten. 1927 folgte die Einführung einer Arbeitslosenversicherung und 1995 einer Pflegeversicherung. Aktuelle Herausforderungen seien in Deutschland die zunehmende Überalterung der Gesellschaft, die Digitalisierung der Arbeit und der Niedriglohnsektor, von dem vor allem Frauen betroffen seien, da diese häufiger in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und deshalb später auch nur eine geringe Rente erhalten. Zudem habe es die Regierung verpasst, die infrastrukturellen Probleme im Bilungsbereich anzugehen.

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Sozialrechte nur auf dem Papier

Sauresch Battalowa, Vorstandsvorsitzende der „Stiftung für die Entwicklung des Parlamentarismus in Kasachstan“, kritisierte in ihrem Vortrag, dass viele soziale Rechte in Kasachstan nur auf dem Papier bestehen. So seien Renten viel zu niedrig. „Wer kann schon von 15.000 Tenge im Monat überleben?“, fragte sie. Weitere Beispiele seien das in Artikel 25 der Verfassung festgeschriebene Recht auf Wohnen, das Recht auf kostenlose Bildung oder das Recht auf Gesundheit, die regelmäßig unterminiert werden.

Das war Anfang Juni zu spüren, als durch eine Meningokokken-Epidemie 13 Menschen in Südkasachstan starben. Eine lebensrettende Impfung kostet zwischen 20.000 und 25.000 Tenge (ca. 50-52 Euro). Für eine Familie mit durchschnittlich drei Kindern oft zu teuer. Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten nicht.

Wladimir Telnow von der Partei „Nur Otan“ ging vor allem auf die bisherigen Erfolge Nasarbajews und die geplanten Projekte im Sozialwesen ein. „Es ist uns nach der Unabhängigkeit gelungen, von der Planwirtschaft wegzukommen und eine Marktwirtschaft in Kasachstan zu errichten. Mit der Erfüllung der Strategie 2030 gehört Kasachstan zu den 50 höchstentwickelten Ländern der Erde. Die Menschen haben begonnen, mehr Geld zu verdienen und ins Ausland zu reisen“, sagte er. Insgesamt habe Kasachstan seit den 1990er Jahren ein System der sozialorientierten Marktwirtschaft geschaffen, in dem auch kleine und mittlere Unternehmen wettbewerbsfähig seien.

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Herausforderungen für die Zukunft

Doch bei allen Fortschritten stimmte auch Telnow zu, dass Verbesserungen in der Sozialpolitik notwendig seien. Bereits 2012 habe Nasarbajew deshalb seine 20 Schritte für eine soziale Modernisierung verkündet. Weitere Maßnahmen seien in den Programmen „Ruchani Schangyru“, „Nurly Zhol“ und „100 Schritte zur Realisierung fünf institutioneller Reformen“ festgehalten.

Als Herausforderungen für die Zukunft nannte der Präsidentenberater Digitalisierung, die Verbreitung der westlichen Ideologie des Konsumismus, Minderheiten und Migration, die junge Generation, die nicht sowjetisch sozialisiert wurde und dadurch andere Ansprüche an einen (Sozial-)Staat habe, sowie den immer noch hohen Anteil ländlicher Bevölkerung. Telnow kündigte an, dass eine großangelegte Digitalisierungskampagne die Bevölkerung fit für die Zukunft machen solle. So seien Informatikkurse für 150.000 Kinder geplant, in denen sie unter anderem Programmieren lernen.

Des Weiteren plane die Regierung, die Urbanisierung voranzutreiben. 2016 betrug die Urbanisierungsrate in Kasachstan gerade einmal 53,2 Prozent. „Auf dem Land können nur wenige tatsächlich von der Landwirtschaft leben. Den Rest wollen wir in die Städte bringen“, so Telnow. Battalowa hielt dem entgegen, dass so das Entstehen von Slums an den Stadträndern von Astana und Almaty gefördert werde. Die größte Herausforderung in Kasachstan für den Aufbau eines Sozialstaates ist jedoch das mangelnde Solidaritätsgefühl der Bevölkerung, also der Wille, von seinem eigenen Geld etwas abzugeben, damit Menschen geholfen werden kann, denen es weniger gut geht. „Die Mehrheit ist nicht bereit dazu, sich an einem Sozialstaat zu beteiligen“, sagte Battalowa deutlich. Dem schlossen sich auch die auf der Konferenz Anwesenden mehrheitlich an.

Im Moment lassen sich zumindest Grundzüge eines Sozialversicherungswesens nach europäischer Art in Kasachstan erkennen. Das ebenfalls diskutierte chinesische System ist hingegen weniger praktikabel, da die Gesellschaftsstruktur aufgrund der Jahrzehnte langen „Ein-Kind-Politik“ eine ganz andere ist und die Regierung noch viel zu sehr darauf setzt, dass nicht Staat für die Menschen sorgt, sondern der Einzelne für sich selbst und seine Familie.

Othmara Glas

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