Klaus Hurrelmann war Redakteur der DDR-Illustrierten „FREIE WELT”, die von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft herausgegeben wurde. Er publizierte 2001 das Buch “Meine irreparablen Kindheitsschäden oder: Der erste darf kein Schwein sein”, in dem er auch über seine Erinnerungen an Kasachstanaufenthalte schreibt. Es gab seinerzeit einen Reporteraustausch zwischen den Redaktionen in Ostberlin und Zelinograd. Heute ist er Rentner und lebt in Berlin. Auf Initiative von Nelly Frank, der Frau eines Freundes des Autors, und der Erlaubnis von Klaus Hurrelmann lesen Sie im Folgenden die Fortsetzung des Buchauszugs, der die Zeit in der „Freundschaft“ betrifft.

[…] Ich wurde platziert, saß eine Viertelstunde solo im Flugzeug, bis die Mannschaft kam und sich freundlich-locker mit mir – entgegen üblicher Gepflogenheit per Handschlag – bekanntmachte. Eine multinationale Crew. Der 1. Pilot ein sehr sympathischer und Vertrauen erweckender asiatischer Mann mit von erstem Grau durchzogenen lackschwarzen Haaren. Es wurde ein in allen Phasen sauberer Flug – durch die Nacht der Sonne entgegen. Was sich, kurz vor der Landung, an Lichtspielen über dem Horizont tat, war so schön und ungewöhnlich, daß ich lebhaft an Sigmund Jähns Fotoserie vom kosmischen Sonnenaufgang erinnert wurde. Übrigens blitzten zu meinem Erstaunen unter mir zahlreiche Gewässer im ersten Morgenlicht, ich vermute, das gewaltige Seengebiet Tengis. Früh um 2 Uhr 23 stand ich einsam und verlassen auf dem Steppenflugfeld Zelinograd. Der liegt, wie alle zivilen sowjetischen Landeplätze, weit vor den Toren der Stadt. Schon kroch der Morgen herauf. Kein Sascha oder jemand anders weit und breit. Alle Informationsschalter geschlossen, die 2-Kopeken-Telefonautomaten landesüblich ohne Telefonbuch. Schließlich gelang es mir, mit Hilfe einer reizvoll verschlafenen AEROFLOT-Angestellten, Saschas Privat-Telefonnummer zu ermitteln! Was das bedeutet, kann nur einer würdigen, der ähnliches einmal selbst durchstand. Ich klingelte meinen Freund aus tiefstem Schlaf. Er und der Stellvertretende Chef Ronald Krause hatten nach stundenlangem, informationslosen Warten aufgegeben, waren in die Stadt zurückgefahren. Sascha versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Vorher mußte er ein Auto beim Fahrdienst des Oblast-Parteikomitees organisieren.

Ich ließ mich samt Gepäck auf einer Verladerampe an der Außenseite des Flughafengebäudes nieder und wartete, daß mich jemand wegjagen würde. Schwärme blutgieriger Mücken in der Luft. Quälgeister, die ihren legendären riesenhaften sibirischen Vettern aus Tundra und Taiga an Aggressivität kaum nachstanden. Da sie aber, wie ich nun entdeckte, auf zahlreichen in meiner Nähe auf blankem Boden niedergesunkenen, tiefschlafenden, schweißdünstenden Menschenleibern leichtere Arbeit als in der Reichweite meiner aufmerksam klatschenden Hände hatten, ließen sie mich relativ ungeschoren. Ich befand mich im schmalen Lichtkegel einer trüben Laterne und starrte von meinem Ausguck aus hinaus in die scheidende Steppennacht. Endlich schaukelte ein Scheinwerferpaar heran, dessen Weg über das tischflache Land ich wohl zehn Kilometer weit verfolgen konnte. Obgleich diese Schilderung stark verkürzt ist, bin ich hier so ausführlich, um mancherlei Landeskolorit rüberzubringen. Jede Kasachstan-Fahrt hinterließ nachhaltigste Eindrücke, die bis heute durch Freundschaften leben. Die Freunde allerdings wohnen inzwischen in Heilbronn oder Göttingen.

Der Sonne entgegen: Kaltwasserkur

Das Wiedersehen mit Sascha war überaus herzlich. Er fühlte sich in seiner gewohnten Umgebung sicherer, als fürsorglicher Gast-geber. Auch der Chefstellvertreter Krause war mir sofort sympathisch, obwohl er sehr konzentriert ein sehr literarisches, völlig fehlerfreies Deutsch sprach. Lange irrten wir dann unbehelligt durch die Korridore des im Tiefschlaf befindlichen Zelinograder Hotels „Ischim“, rüttelten vergeblich an verschlossenen Türen zum ,,Intourist“-Flügel. Ich mußte inzwischen mal dringend, suchte ein Etagenklo auf. Auf der Stelle wußte ich, daß ich im tiefsten Asien angekommen war. Schließlich schloß man mir, zum gepeinten Entsetzen des Chefredakteurs, ein Zimmer im allgemeinen Teil des Hotels auf. Krause versicherte verlegen immer wieder, daß ich so schnell wie möglich umquartiert würde. Mir Todmüdem war das egal. Zumal ich nun über einen eigenen Abtritt verfügte, wenngleich so krumm und liederlich installiert wie jegliches Bauwerk dortzulande. Ausgenommen die prunkvollen Mausoleen auf den muselmanischen Begräbnisplätzen, wie ich bald feststellen würde. Ich verzichtete später auf einen Umzug in den keimfrei abgeschirmten INTOURIST-Trakt, wodurch ich ungeschoren in meinem Appartement residieren und immer, wenn ich nichts außerhalb zu tun hatte, Scharen von Gästen empfangen konnte. Ein so rigoroses Deschurnaja – Wach– und Kontrollsystem wie etwa in Moskauer Hotels und im Intourist-Flügel funktionierte hier nicht. Jedenfalls nicht sichtbar.

Ich war dem Sonnenaufgang um fünf Stunden entgegengeflogen. Die Zeitverschiebung steckte mir in den Knochen. Als ich allein war, schlurrte ich erwartungsfroh in mein Duschkabinett, drehte am roten Hahn. Aber auch nach Minuten floß nur eiskaltes Wasser. So legte ich mich enttäuscht und ungebraust zur Ruhe, aus der ich immer wieder hochschreckte, weil im Nachbarzimmer ein Mann mit bärenstarkem Baß unter Alpträumen zu leiden schien und oft und laut tierisch schrie. Neue Pleite nach kurzem, kaum erquickendem Schlaf: Auch am Vormittag, als im Hotel alles lebendig geworden war, spendete der rote Wasserhahn nur eiskaltes Nass: Beim Rasieren würde das Probleme bringen. Endlich siegte mein experimentierfreudiger Forschergeist: Nach Manipulieren der blau gekennzeichneten Wasserquelle strömte es heiß! So war ich einigermaßen erfrischt, als Sascha vormittags an der Zimmertür klopfte. Wir planten gemeinsam, etwas zu erledigen, von dem ich im Vorhinein wußte, es würde kompliziert: Ich wollte ein Geburtstagstelegramm nach Berlin aufgeben. Ich besaß bereits Erfahrungen aus der Uralstadt Orenburg: Dortselbst hatte einmal eine Schalterfrau von mir verlangt, meinen deutschen Telegrammtext mit kyrillischen Buchstaben aufs Formular zu malen. Daraus wurde in Berlin ein Gruß von „Rara aus Orenburg“. Nun also Spannung im Zelinograder Hauptpostamt. Wie geht Kasachstans Post das Problem an? Saschas Assistenz war in der Tat dringend vonnöten, denn hier in Mittelasien (ich war so weit weg von zu Hause, als sei ich nach China gereist!) wurde allein russischer Text – aus Sicherheitsgründen, wie man mit Spionenfurcht in der Stimme erklärte – akzeptiert. Mein Freund hatte Schwierigkeiten mit dem Wort „Geburtstagskinder“, für das es in der Landessprache keine stimmige Entsprechung gäbe. Die Postbeamtin hatte uns wortreich versichert, daß in Moskau, vor der Weitervermittlung ins westeuropäische Berlin, mein geprüfter Text durch erfahrene Dolmetscher zurück ins Deutsche übertragen würde. Zumindest kassierte Potschta SSSR für diese Gefälligkeiten nur geringe Gebühren. Spottgelder, verglichen mit den bundesdeutschen Preisen für postalisches Dienstleisten. […]

>> Die Fortsetzung dieses Buchauszugs lesen Sie in den nachfolgenden Ausgaben

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