Der Erfolgsautor der Russendisko Wladimir Kaminer ist auf dem Weg zu einer Lesung in Hamburg. Fast jeden Tag hockt der gebürtige Moskauer im Zug. 1990 brachte ebenfalls ein Zug den damals Vierundzwanzigjährigen in seine neue Heimat Berlin. Dass er Schriftsteller wurde, war genauso wie die Tatsache, dass er nach Deutschland und nicht nach Amerika ausgereist ist, eine spontane Entscheidung. „Die Fahrkarte nach Berlin kostete damals nur 96 Rubel, und außerdem brauchte man dafür kein Visum.“

/Foto Josef Zierden. ‚Kaminer liest aus seinem letzten Buch.’/

Das graumelierte Haar ist kurz geschnitten, er ist schlank und gut gekleidet. Auf der roten Lederbank im Bordrestaurant liegt neben ihm eine schwarze Tasche. Darin bewahrt er seine neuesten, noch unveröffentlichten Geschichten auf. Er trinkt grünen Tee, und als der Zug langsam aus dem Berliner Hauptbahnhof rollt, sind wir schon mitten im Gespräch.
Wladimir Kaminer hatte in Moskau Tontechnik und Dramaturgie gelernt, deswegen fand er in Berlin schnell Arbeit bei einem Theaterprojekt. Seine Aufgabe war, jeden Abend den Tagesverlauf zu protokollieren. Er schrieb daher jeden Tag ein offizielles Protokoll für das Theater und ein inoffizielles für seine Kollegen. Die fanden seine Geschichten lustig, und Kaminer begann sie auf Berliner Lesebühnen vorzutragen.

Russendisko

Seit damals sind zwanzig Jahre vergangen und, vieles hat sich verändert, nicht nur die Häuser im Prenzlauer Berg, in denen Kaminer in den 90er Jahren noch Wohnungen besetzt hatte. Heute sind sie moderner und teurer, und er hat Familie und ist deutscher Staatsbürger. Rückblickend lässt er die Zeit langsam an sich vorbeiziehen. Wie im Zug, wenn man gegen die Fahrtrichtung sitzt. Das schreibt er in seinen Büchern nieder. 15 an der Zahl sind davon schon erschienen und wurden knapp vier Millionen Mal verkauft.

Das erste war „Russendisko“ im Jahr 2000. Es war seine persönliche Geschichte, es war sein Durchbruch als junger dreißigjähriger Schriftsteller. Seitdem kennt fast jeder im deutschsprachigen Raum den sympathischen Russen, dem der Gesprächsstoff nicht ausgeht. 2012 wird die „Russendisko“ verfilmt und in den Kinos zu sehen sein.

Das Recht, anders zu sein, muss anerkannt werden

Das Reisen, das Kennenlernen fremder Eigenarten und der eigene Platz im ganzen System ziehen sich als roter Faden durch Kaminers Bücher. Ihn aber auf eine migratorische Schreibweise zu reduzieren reicht nicht. Er entfremdet nicht in seinen Texten, sondern deckt durch die Beschreibung seines Umfelds soziale Prozesse auf. Der Autor kritisiert in ironischem, bisweilen sarkastischem Ton die Machtverhältnisse der Gesellschaft in der er lebt, ihre Ansichten, ihre Kurzsichtigkeit und zwar durch ein Medium, das die Menschen verstehen und akzeptieren: Spaß und Unterhaltung.

Kaminer erzählt locker, sorgsam wählt er seine Worte, hilft gestikulierend nach, wenn ihm der passende Ausdruck nicht gleich über die Lippen will. Der ästhetische Anspruch eines Schriftstellers. „Eine intelligente Gesellschaft ist nicht nur eine, in der Menschen ohne Ausnahme Gabel und Messer beim Essen benutzen“, gibt er zu bedenken.

Nur wenn Menschen fähig zum Dialog, fähig zum Kennenlernen anderer Kulturen seien, würden sie bestehen. Ein jedes Land müsste seine Identität ständig neu erfinden und hinterfragen, flexibel bleiben und sich verändern. „Wenn Gesellschaften sich aber von Fremden abschotten, werden sie an ihren hausgemachten Identitäten früher oder später ersticken.“ Das klingt aufgeklärt, demokratisch und sehr richtig.

„Privat bin ich Russe“

Meine kaukasische Schwiegermutter, erschienen im Goldmann Verlag.

Das Telefon klingelt, seine Frau ist dran, sie unterhalten sich auf Russisch. Fünf Minuten später zieht er das Telefon erneut aus der Seitentasche des schwarzen Kaschmirmantels: sein elfjähriger Sohn Sebastian hat neue Talente an sich entdeckt und bräuchte dazu das nötige Equipment, sprich ein Skateboard und eine Hockeyausrüstung. Der Vater beglückwünscht ihn und garantiert ihm seine Unterstützung, tendiert aber eher zum Skateboard. Mama muss nichts davon wissen. „Die Kindheit gibt es nur einmal“, lacht er, und seine großen grünen Augen blitzen selbst wie bei einem Kind. Privat sei er Russe, erzählt Kaminer, er denke und rede russisch. Als Literat schreibe er aber die deutsche Geschichte weiter, weil er ja selbst in der deutschen Geschichte lebe.

Seine eigene Kindheit am Stadtrand von Moskau war anders. Er sei bereits mit 14 Jahren reif und entwickelt gewesen, die jungen Leute in Deutschland, vor allem die Jungs, wollten am liebsten überhaupt nicht mehr erwachsen werden. Er schätzt sie als freundlich und verträumt ein, weil sie auf keiner Baustelle des Jahrhunderts ihren Beitrag leisten müssten. „Europa hat keine Idee für sie. Dafür können sie ihr Leben selbst kreativ gestalten.“ Die Frage, ob sein Sohn ebenfalls ein deutscher Junge wird, bleibt im Raum stehen, denn der Zug hält in Hamburg, und wir steigen aus.

Kein grübelnder Schriftsteller

Um viertel vor acht betritt Kaminer durch den Haupteingang der „Fabrik“. Er ist Pragmatiker und wählt, wie in seiner Sprache, den direktesten Weg. Er weiß, dass er mit seiner Literatur viele Menschen erreicht, die Lesungen in den großen Sälen von Hamburg bis München sind ständig ausverkauft.

Backstage legt er den Mantel ab, trinkt einen Schluck Wasser, wirft einen kurzen Blick in den Spiegel, und dann entfährt es ihm: „Ich bin nervös wie immer!“ Er lacht dabei und rollt mit den Augen. Sein Gesicht liegt nicht in tiefen Falten, er ist kein grübelnder Schriftsteller im Elfenbeinturm, sondern ein Mann, der auf die Straße tritt, über das Leben sinniert und es von der heiteren Seite sieht. „Man muss nur an den richtigen Stellen lachen“, sagt er, das sei alles. Das machen die Zuschauer dann auch, als er strahlend die Bühne betritt.

Von Marion von Zieglauer

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