Der Bild- und Reisejournalist Jan Balster schildert den Weg von Taschkent nach Samara. Zwei Tage und Nächte lang geht es mit dem Zug durch die Steppen- und Wüstenregionen Kasachstans. Eine Kurzgeschichte über lange Freundschaften, endlose Weiten und post-sowjetische Gepflogenheiten.

Was habe ich mich schon auf Bahnhöfen herumgedrückt! Von da nach dort will ich reisen, und so warte ich und warte ständig auf irgendetwas, auf irgendjemanden. Und genau in solchen Momenten geschieht das Ungewollte, jenes Vertraute tritt in mein Leben. Und kaum habe ich dagestanden, spricht mich ein Usbeke an: „Sie sind doch derjenige, der uns die Tasche repariert hat.” Ich reagiere etwas abweisend und verspüre nicht den Hauch einer Lust, mich zu unterhalten. So manches Mal entpuppten sich derartige Bahnhofsbekanntschaften später als schlichte Bettelei. Doch der schwarzhaarige Herr bleibt hartnäkkig: „Sie waren das, der uns die Tasche mit Klebeband verschlossen hat.”

Und ich erinnere mich flüchtig an zwei Männer auf dem Bahnhofsvorplatz von Samara, an Batyr, den Lehrer, und seinen Freund Salai, den Arzt aus Buchara. „Diesmal bist du nicht allein”, sagt Batyr: „Deine Frau?” In meiner Unachtsamkeit habe ich ganz vergessen, Dina vorzustellen. Sie reichen einander die Hände. „Habt ihr die Grenzen gut überstanden?” fragt er.

„Die üblichen Kontrollen”, antworte ich.

„Vor zwei Jahren kamst du gerade aus Taschkent, und wir, Salai und ich, fuhren zurück.” Damals waren die Kontrollen in Kasachstan besonders schlimm. Die Grenzer hatten Salai die gesamte Tasche zerrissen. Ihrer Meinung nach hatte er sie nicht schnell genug geöffnet. Da wurde schnell ein Messer gezückt. „Du flicktest seine Tasche mit Klebeband”, erinnert Batyr. Und wie damals unterhalten wir uns noch eine Weile über die Familie, das Leben in Usbekistan, und wie damals fährt ihr Zug ebenfalls zuerst ab. Batyr reicht Salai die Taschen, die blaukarierte ist auch dabei, in den Zug. Noch einmal schütteln wir unsere Hände, und Batyr meint: „Vergangene Woche seid ihr als Touristen in Taschkent gewesen, das nächste Mal kommt ihr als Gäste.” Und als der Zug den Bahnhof verlässt, halte ich seine Adresse in der Hand.

Die erste Nacht

Wir steigen in den nächsten Zug und wir betreten ein Zweibettabteil, hübsch mit grünen Decken dekoriert. Zwei Teeschalen und eine Kanne stehen auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Es ist sauber. Und kaum haben wir uns eingerichtet, da ist es vorbei mit der Ruhe. Zwei Beamte betreten unser Abteil und überreichen uns die Zolldeklarationen. In Usbekisch. Wir schauen uns an und verstehen kein Wort. „Möchten sie lieber eine russische Ausführung?” fragt der Zollbeamte, und er erklärt uns gleich, wie wir sie auszufüllen haben. „Was, mit so wenig Geld reisen sie?” stutzt er.

„Ja“, antworte ich.
„Und das Hotel, das Essen und die Souvenirs?“
„Hotel und Essen ist bezahlt, und Souvenirs kaufen wir uns nicht.“
„Und diese Fotokamera?“, fragt er weiter.
„Das ist eine alte”, erkläre ich: „Diese hier ist bei allen meinen Reisen dabei.”
„Aha”, brummt er und gibt uns die Pässe zurück.

Der Prowodnik, der Zugbegleiter, stellt sich als Igor vor. Er wird uns von Taschkent nach Samara begleiten, für alle Fragen und Wünsche zur Verfügung stehen. Er teilt die Bettwäsche aus. Wir überziehen unsere Kissen und breiten unser Nachtlager aus. Dann lässt Igor sich unsere Fahrkarten zeigen. „Da sind sie nun zwei Nächte in der Bahn”, sagt er.

Wir haben gut geschlafen. Und zum ersten Mal erklimmt die Sonne in tiefem Rot den Himmel. Langsam rattert der Zug über die Gleise, wiegt uns in den Liegen hin und her, auf und ab. Die Landschaft verändert sich kaum – Grassteppe. Kleinwüchsige Büsche trotzen dem steinharten Boden und entwickeln eine erstaunliche Zähigkeit zum Überleben.

Fliegende Händler

Von Zeit zu Zeit blicken wir nach draußen, Kamele weiden. Mal mit zwei, mal mit einem Höcker.

Am Bahnhof Kysyl-Orda herrscht geschäftiges Treiben. „Der Zug kommt!”, hört man die Kinder rufen. Gepäckstücke werden gestapelt, Waren transportiert und die fliegenden Händlerinnen positionieren sich um die Wagontüren: „Cholodnaja Woda, Piwo”, „Moroschenoje”, Wasser, Bier, Eis, immer die selben Dinge werden angeboten, sogar Geld wollen sie tauschen. Doch das dürfen wir nicht, für jeden Umtausch muss eine Quittung amtlich genehmigt werden. Das Abfahrtssignal ertönt, durch die Lautsprecher kreischt eine unverständliche Stimme, der Zug verlässt den Bahnhof, die Menschen räumen den Bahnsteig.
Draußen vor dem Fenster hat sich das Bild noch immer nicht geändert, die Grassteppe zieht an uns vorbei, Kamele und Rinder, von Zeit zu Zeit ein paar Pferde, und am Horizont taucht ein einsamer Reiter auf. Der Sand, dessen wir auch im Zugabteil kaum Herr werden, wechselt seine Farbe von gelb zu rot und wieder zurück. Das Kosmodrom Baikonur versteckt sich irgendwo, und der sterbende Aralsee liegt zurückgezogen in der kasachischen Steppe. Bald werden die Gräser größer. Für eine Weile begleitet uns ein Fahrzeug auf der vorbeiführenden Landstraße. Und der Tag neigt sich dem Ende zu. Sechs Uhr morgens. Auf dem Bahnsteig von Jaysan tummeln sich die Grenzsoldaten. Kommandieren, aufmarschieren, dirigieren. Keiner weiß, was zu tun ist, aber alle tun, als ob es zu tun wäre. Taschen werden durchwühlt, Unordnung hergestellt. „Sehen Sie zu, wie Sie Ihre Sachen wieder einräumen, aber machen sie schnell, und klemmen sie sich den Rest unter ihren Arm”, hören wir: „Der Nächste bitte, schnell, dawaitje!” Und alles wird überwacht. Dann sind wir an der Reihe. Zuerst ein Polizist in Zivil: „Passport bitte.” Will er nur wissen, aus welchem Land wir sind? Ist es seine Art, Neugier zu zeigen? Eine Frage nach dem „Wohin” und

Visumsprobleme

„Woher” hätten wir ihm sicher freudig beantwortet. Später fällt er uns im Nachbarabteil auf. Seit Taschkent ist er mit uns gereist. Ein Polizist der russischen Polizei, dem wir in Kasachstan gar nicht auskunftspflichtig sind.

Alles harmlos. Diesmal haben sie es nicht auf unsere Gepäckstücke abgesehen. Nein, auf unsere Pässe. Zwei männliche Grenzer kontrollieren sie zuerst. Ein Stempel ist falsch. Sie holen eine Grenzerin hinzu: „Darf er einreisen?” Apathisch sagt sie: „Njet, das Visum ist geschlossen.“

„Aber er sitzt hier im Zug!“

Die Grenzerin tönt vom Gang, wird ausfallend. Ihre Kollegen sehen das alles nicht so eng, lächeln uns zu und schlagen ihr vor, in Moskau anzurufen. Wir werden aus dem Zug geführt. Igor verschließt sofort das Abteil: „Ich passe auf.”

Von Zollbeamten begleitet, werden wir zum Gebäude gegenüber geführt. Noch immer kollabiert die Grenzerin: „Der Stempel hier sagt aus, dass Sie schon wieder aus Russland ausgereist sind. Ihr Visum ist zu.“

„Wir wissen doch nicht, wo die Stempel hin müssen.”
„Das Visum ist geschlossen.“

„Ich habe den Stempel doch nicht dort hingedrückt.” Wieder nimmt uns ein Grenzer in Schutz: „Erst einmal hinsetzen, wir telefonieren.” Da sitzen wir nun mit unserer Nervosität und unserer Unschuldigkeit. Es herrscht betriebsame Geschäftigkeit in den Zimmern nebenan. Wieder wird kontrolliert, organisiert und diskutiert. Pässe werden gedreht, mal auf den Kopf, mal seitwärts, mal richtig herum. Und in 20 Minuten fährt unser Zug. Die Nummer ins Telefon gedrückt: „Hallo, Scheremetjewo!”, ruft es. Das Faxgerät läuft heiß. „Wir können nichts lesen”, sagt der Grenzer. Türen schlagen, Polizistinnen wechseln die Zimmer und halten die Männer auf Trab. „Dawaitje, poschalusta, der Zug fährt gleich.” Endlich, die Pässe, noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Stempel rotieren, Kugelschreiber notieren und signieren.

Im falschen Zug

Türen schlagen, und wir sind im Zug, doch er fährt nicht ab. Lenin blinkt vom Denkmal gegenüber, Soldaten stehen herum, so zur Zier, mag man meinen. Zwei Männer schleppen ihr Gepäck aus einem Waggon am Ende des Zuges. Ist ihre Fahrt zu Ende? Müssen sie zurück, woher sie kamen? Die beiden Usbeken nach Taschkent. „Falscher Zug”, erklärt uns Igor. Das Abfahrtssignal ertönt, und langsam kommt der Zug in Fahrt. Er passiert Flüsse, kahles Land und die bewaldeten Ausläufer des Uralgebirges. Verarmte Stationen, auf denen die Einwohner nahe gelegener Dörfer ihre Waren den kurzzeitig aussteigenden Reisenden feilbieten, säumen den Schienenstrang. Und bald tauchen die ersten Erdgasfördertürme am Horizont auf. Samara ist nah.

Gegen Abend beobachten wir das Treiben auf dem Bahnhof von Sama-ra, modern konstruiert im Glasbaustil nach westlichem Vorbild. Auf dem Vorplatz haben sich die Händler aufgebaut und bieten ihre Waren zu überhöhten Preisen an. Und da sind sie wieder, die verkappten Bekanntschaften, welche sich zuweilen als Bettler entpuppen. Ich höre die Frage der Händler: „Otkuda?” „Haben Sie nicht ein Geschenk für mich?”, sind die Fragen der Bettler, die uns sofort beim Stehenbleiben umringen.

Zwei Flaschen kaltes Wasser sind schnell erstanden, und mit einem Fladenbrot im Gepäck geht es zum Bahnhof zurück. Gefüllt hat er sich immer noch nicht. Die Polizisten am Eingang zur Wartehalle leisten ganze Arbeit. Ohne gültige Fahrkarte kommt niemand hinein. Taschen werden durchsucht und Pässe inspiziert. Bis unser Zug einfährt, bleiben noch zwei Stunden, denke ich, als wir Batyr und Salai erblicken. Wie damals machen sie sich an ihren Taschen zu schaffen, und wie vor zwei Jahren reiche ich ihnen mein Klebeband. „Bis nach Hause wird es halten“, bedankt sich Salai. Wir setzten uns, verzehren gemeinsam ihre eben gekauften Piroggen und unser Fladenbrot. Und als es dunkelt und beide sich verabschieden, klopft mir Batyr auf die Schulter und sagt: „Wenn ihr wieder nach Usbekistan kommt, seid ihr keine Gäste mehr. Freunde sind immer willkommen.” Ein Zug hält, Lichter in den Abteilen blitzen auf. Sie steigen ein. Der Zug rollt an, die Nacht beginnt.

Von Jan Balster

07/07/06

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