Wenn ich bei Freunden ein eigenes Gästezimmer bekomme, das während meines Aufenthalts für keine anderen Zwecke genutzt wird, erachte ich dies tatsächlich als MEIN Gästezimmer, was umfasst, dass ich die Atmosphäre ganz nach meinem Gusto gestalten darf. Was heißt, dass ich mir eine dunkle, gemütliche, warme Höhle zurechtmuffele, die durch Frischluftzufuhr empfindlich gestört wird.

Nun ist es aber so, dass die meisten Menschen frische Luft und Licht bevorzugen und, so oft und so weit es nur geht, die Fenster aufreißen und sogar heldenhaft bei offenem Fenster schlafen. Diese Menschen können den Hauch der Muffeligkeit nicht gut ertragen, drum stürzen sie sich, kaum dass sie einen muffeligen dunklen Raum betreten, ans Fenster, um es hektisch aufzureißen. Hier braucht es frische Luft! diagnostizieren sie vermeintlich objektiv. Wenn es sich dabei um „mein“ Gästezimmer handelt, machen sie mit ihrem Frischluftfanatismus meine in vielen Stunden mühsam erarbeitete Muffeligkeit mit einem Handstreich zunichte. Fenster auf und raus ist sie, wusch! Na, diese Leute hätten aber einiges zu staunen und zu leiden, wenn sie sich in Russland den ganzen Winter über mit zugeklebten Fenstern konfrontiert sähen. Zwar gibt es dort genug Ritzen, durch die sich kalte Luft schlingeln kann, aber Fensteraufreißer haben eben den Drang, Fenster aufzureißen, da trösten auch kleine Ritzen nicht.

Schlimm wird es aber erst, wenn die Frischluftfreunde zusätzlich auch noch Frühaufsteher und ordnungsliebend sind UND dies alles als Tugend definieren, anstatt einzusehen, dass es Geschmacks- und Ansichtssache ist, individuellen Biorhythmen, Gepflogenheiten und manchmal sogar Zwanghaftigkeiten folgt und nicht etwa mit Fleiß, Disziplin oder Elan verwechselt werden darf. Solche Artgenossen sind höchst ungenießbar, wenn sie morgenmuffelige Spätaufsteher in ihrer miefigen Unordnung vorfinden. Dann wird es für letztere sehr ungemütlich, und ich weiß, wovon ich spreche. Damit habe ich seit jeher zu kämpfen. Mütter kennen da gar kein Pardon, sie stiefeln dominant über schlafende Kinder hinweg und reißen stichelnd die Rollos hoch und Fenster auf. Freunde sind etwas zurückhaltender und warten damit, bis man nach dem ersten Aufstehen auf dem Klo verschwunden ist oder sich an den Frühstückstisch gesetzt hat. Dann schleichen sie sich heimlich in das Gästezimmer, um die muffelige Höhlenatmosphäre kaputt zu machen, in die man sich gerne nach dem ersten Kaffee bis zum zweiten Aufstehen zurückbegeben hätte. Das ist zwar nicht ganz so militant wie bei den Müttern aber ein wenig ärgerlich schon.

Dieser Tage bin ich zu Besuch bei meiner Freundin in Wien. Da grad Herbst ist und wir uns in einer uneindeutigen Herbst-Wetterlage zwischen kühl und warm befinden, galt es kurz abzustimmen, wie unser jeweiliges Wärmeempfinden ist, ob wir die Fenster offen oder geschlossen halten, die Heizung hoch- oder runterdrehen und wie wir es nachts handhaben wollen. Meine Freundin vermerkte kurz: „Du magst es ja lieber muffelig, oder?“ Oh, wie gut tut es, nach vielen Jahren offen erkannt und akzeptiert zu werden. Keine Schelte. Keine Stichelei. Keine Diskussion, was richtig und gut ist. Kein Kampf um das Raumklima „meines“ Gästezimmers. Ich darf darin muffeln, so viel und so lange ich will. Herrlich!

Julia Siebert

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