Dagmar Schreiber arbeitet als Expertin für Tourismusentwicklung seit Juli 2008 in Almaty. Sie betreut im Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus ein Netzwerk von ländlichen Gästehäusern in den schönsten Regionen Kasachstans. In ihrer DAZ-Serie stellt die bekennende Kasachstanfreundin lohnenswerte Reiseziele vor. In dieser Woche nimmt sie die DAZ-Leser mit ins märchenhafte Sandyktau.

/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Bäckerei in Sandyktau: Hier kauft man das Brot noch da, wo es gebacken wird.’/

„Astanaaaa, pojedjem v Astanuuu, za 2.000 Tenge na lechkovoi maschinje!“ – Die kurzhaarige, kräftige Kasachin auf dem Bahnhofsvorplatz von Kokschetau ist in eine derbe Strickjacke gewandet. Ich frage sie ungläubig, ob die 300 Kilometer bis Astana wirklich nur 2.000 Tenge kosten. Sie heißt Rosa und bejaht, wenn das Auto voll sei und jeder zahle, dann schon. Diese Auskunft beruhigt mich, muss ich doch in zwei Tagen zurück in die Hauptstadt.
Mit meinen Kolleginnen Aigul und Schanar vom Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus (IRZÖ), Maira vom Tourismus-Lehrstuhl der Turan-Universität und Irina und Karlygasch  vom lokalen Koordinationszentrum ländlicher Gästehäuser (EKOS) fahren wir in einem Kleinbus Richtung Südwesten. Unser Ziel heißt Sandyktau, hier soll eine dreitägige Schulung von Betreibern ländlicher Gästehäuser der Gebiete Karaganda und Akmola stattfinden.

Köstlichkeiten vom Bauernhof

Nach zwei Stunden Fahrt durch wald- und seenreiches Hügelland kommen wir im Abendrot in Sandyktau an. Da stehen drei Frauen, die uns mit Brot und Salz willkommen heißen, Begrüßungslieder singen und uns erwartungsvoll anlächeln. Ich bin überrumpelt. Schon 28 Jahre bin ich in Russ-land und weiter östlich unterwegs – und hier werde ich zum ersten Mal mit dieser sprichwörtlichen Geste empfangen.

Wir durchmessen mit drei Schritten den kleinen Vorgarten mit den Herbstblumen und betreten das Haus, einen soliden Steinbau inmitten der kleinen Kosakenholzhäuser mit ihren üppigen Schnitzereien. Eine kleine, abgearbeitet aussehende Frau mit freundlichen Augen zeigt uns unsere geräumigen Zimmer. Sie sind hell und sauber, schlicht, aber zweckmäßig eingerichtet.

Im Badezimmer gibt es in einem Verschlag ein WC, und im Korridor steht sogar ein Computer mit Internetanschluss!

Nach zehn Minuten werden wir in die Küche gerufen und bekommen ein Essen aufgetischt, dessen Zutaten alle vom eigenen Hof und aus den Wäldern der Umgebung kommen. Natascha baut Kartoffeln, Zwiebeln und Gemüse an, hat Hühner, Schweine und Kühe. Die eingelegten Pilze und der Krautsalat verweilen nicht lange auf unseren Tellern, das selbstgebackene Brot ist noch warm, der Rahm ist eine Verführung, die Butter auch, und die Apfelwarenje zum Tee ist nach fünf Minuten spurlos verschwunden. Ich schlafe tief und fest, kein Hundegebell oder Hahnengeschrei weckt mich.

Kaltes Wasser aus der Wand – Warme Milch aus dem Euter

Die Schulung am nächsten Tag wird umgekrempelt zum Erfahrungsaustausch. Natascha erzählt, dass sie in diesem Jahr drei Gäste hatte, sie blieben ein Wochenende lang. Wir kommen ziemlich schnell zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, dass die Gastgeber etwas über die Besonderheiten ihrer Gäste wissen und sie entsprechend empfangen und betreuen können. Der Gast weiß ja bisher nicht einmal, dass es in diesen Orten Gastgeber gibt! Der potentielle Gast arbeitet in Astana und weiß nicht, wo er sich am Wochenende erholen soll. Er war in Borowoje und fand es überfüllt, es war vielleicht auch an den Seen zwischen Tengis und Korgalschyn und hat über die Mücken geflucht. Er hat keine Ahnung, dass er nur zweieinhalb Stunden nordwestlich von Astana beerenreiche Gegenden findet, mit Märchenwäldern, wo es Elche gibt, wo er Pilze suchen und finden kann, wo man in großen und kleinen Wald- und Steppenseen baden kann, ohne sich den Strand mit Tausenden anderen Erholungssuchenden zu teilen. Er weiß nichts von Nataschas Haus und von den circa 20 anderen Gästehäusern in Sandyktau, Imantau und Aiyrtau, er würde sich wundern, wenn ihm einer erzählen würde, dass er dort für umgerechnet 20 Euro nicht nur bed & breakfast, sondern echte biologisch-dynamische Vollpension bekommt. Es ist kein komfortabler Urlaub, der einen hier erwartet, es ist eine Reise in die Vergangenheit. So sah es bei unseren Großeltern auf den deutschen Dörfern der 1950er Jahre auch noch aus. Es kommt kein heißes Wasser aus der Wand, aber dafür warme Milch aus dem Euter, und wenn man will, kann man bei Natascha sogar einen Melkkurs machen.

Verborgene Schätze der Region

Wenn man Nataschas Geschichte kennt, versteht man, warum ländlicher Tourismus die einzige Chance für solche Gegenden ist, aus ihrer himmlischen Verschnarchtheit etwas Gutes und sogar ein bisschen Wohlstand für die verbliebenen Einwohner zu machen. Natascha ist 46. Ich hätte sie älter geschätzt, wenn da nicht in ihrem manchmal müden Gesicht ihre Augen wären, jung, neugierig, unruhig. Vor zwölf Jahren hat sie auf tragische Weise ihren Mann verloren. Die Kinder waren damals zwei, fünf und sechs, sie hat sie ganz allein durchgebracht. Der Garten und das Vieh haben sie ernährt. Beim Heumachen für den Winter haben die Nachbarn geholfen, jetzt macht es der jüngste Sohn. Die beiden Großen studieren Tourismuswirtschaft und Computertechnik in Kokschetau. Woher sie die Studiengebühren nimmt, sagt sie mir nicht. Aber es ist schwer vorzustellen, dass ihr Buchhaltergehalt von ca. 100 Euro dafür reicht.

Wir sprechen über das, was man hier in der Gegend machen kann: Angeln – die Seen sind voller Karpfen, Barsche, Hechte. Im Sommer kann man reiten, im Winter mit dem Pferdeschlitten fahren. Und dann ist da noch der sprichwörtliche Beeren- und Pilzreichtum. Nachbar Sergej sammelte im vorigen Jahr 150 Kilogramm Pilze und marinierte sie, um sie einem Restaurant in Astana zu verkaufen. Irgendwie kämen sie hier alle so durch, sagt Natascha. Und man helfe sich gegenseitig.

Auf eigenen Beinen

Das will man gern glauben. Der Bürgermeister des Ortes hat sich am Morgen bei der Schulung vorgestellt. Für ihn ist der Tourismus ein potentieller Wirtschaftfaktor. Er hat sein Dorf gut im Griff, macht den Leuten Mut, etwas Neues zu wagen. Hier könnte es klappen, das Konzept vom „community based tourism“, das nur funktioniert, wenn die Dorfgemeinschaft zusammenhält. Nun müssten nur noch die Touristen kommen.

Wir reden darüber, wie gutes Marketing funktioniert, welche Werbemöglichkeiten kostengünstig erschlossen werden können. Es fragt sich, ob solche Initiativen in einem Land, das vor allem auf gigantomanische Tourismusprojekte setzt, ohne Hilfe von außen eine Chance haben. Ich kann ein Jahr lang Aufbauhilfe leisten und die Werbetrommel rühren. Und dann? Die Gästehäuser müssen so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen. Wenn ihr Bekanntheitsgrad steigt, kommen die Gäste fast von selbst.

Natascha schenkt mir zum Abschied ein Glas dieser fantastischen marinierten Pilze. Wir einigen uns darauf, dass ich im nächsten Jahr die Pilze für das folgende Glas selbst im Elchwald suche und sie mir dann das Marinieren beibringt.

Mein Rückweg verläuft reibungslos. Der pilzesammelnde Nachbar Sergej fährt mich in seinem alten, tapferen Zhiguli nach Kokschetau, ich finde Rosa auf dem Bahnhofsvorplatz und lasse mich von ihr in ein Taxi nach Astana setzen. Es kostet wirklich nur 2000 Tenge, und nach vier Stunden bin ich angekommen. Eine fast fertige Schnellstraße verbindet die beiden Städte, es ist ein schönes Gleiten durch die wellige Landschaft der Sary Arka. Der gelbe Rücken der Steppe trägt hier idyllische Inselchen aus Birken- und Kiefernwäldern, erst kurz vor Astana wird die Landschaft eintönig. Die Hauptstadt empfängt mich mit dem üblichen Feierabendstau. Ich stiere frustriert aus dem Auto. Nach einer halben Stunde im stehenden Verkehr, inmitten von Gehupe und Abgasgestank, stelle ich fest, dass ich Sehnsucht habe nach Syndyktau und Natascha.

Noch mehr Reiseinspirationen und Geschichten über kasachische Gasthäuser auf dem Land stehen auf der DAZ-Website (Zentralasien).

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Kontakt: Zentrale des Zentrums für Ökotourismus Ecotourism Information Ressource Center Almaty, Zheltoksan-Straße 71 / Ecke Gogol-Straße. Tel.: +7 (727) 2 78 02 89, Fax: +7 (727) 2 79 81 46, e-mail: ecotourism.kz@mail.kz, website: www.eco-tourism.kz

Gästehäuser im Gebiet Kokschetau: Verein „Ekos“, Irina Kostizyna und Karlygasch Sulejmenowa, Kokschetau, uliza Tschapajewa 37, Tel.: +7 7162 266460, +7 701 1695946, +7 701 2577853, e-mail: 1963.63@mail.ru, akmol-ekos@mail.ru, irina1963.63@mail.ru

Anreise aus Almaty: Mit dem Talgo-Express bis Astana, dann mit dem Vorortzug (Elektritschka) nach Kokschetau. Langsamer, aber geräumiger und preiswerter ist der durchgehende Zug Almaty-Kokschetau. Nach vorherigem Anruf kann man in Kokschetau von Irina oder Karlygasch von EKOS abgeholt werden. EKOS kümmert sich dann um die Weiterreise in die Dörfer.

Allgemeine Reiseinformationen: Ende Oktober 2008 ist die 3. Auflage von Dagmar Schreibers Reiseführer „Kasachstan entdecken“ erschienen.

Von Dagmar Schreiber

20/02/09

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