Mit dem Zug durch ein fremdes Heimatland– ein persönlicher Reisebericht von Olga Herschel.

Obwohl ich erst mit neun Jahren nach Deutschland auswanderte und neben meiner Muttersprache Russisch nicht wenig an eigenen Erinnerungen mitnahm, war Kasachstan für mich vorwiegend das Heimatland meiner Großeltern und Eltern gewesen.

In unserer Familie kursierte eine Fülle an Geschichten über ihr Leben vor dem zweiten Weltkrieg, währenddessen und in der stalinistischen Sowjetunion. Irgendwann hatte ich unsere Familiengeschichte selbst so weit verinnerlicht, dass ich jedem, der nachfragte Episoden daraus nacherzählte.

Die Familiengeschichte reist mit

Das alte Haus der Großeltern in Schemonaicha. | Bild: Olga Herschel

Da ist zum Beispiel jene von meinem Großvater väterlicherseits, Paul Stauch, wie er mit 12 Jahren, des Russischen akzentfrei mächtig, dem Kohleschacht des Arbeitslagers entfloh. Er gab sich fortan für einen Russen, Pavel Serikow aus. Seine Angst, die falsche Identität könne eines Tages auffliegen, war ihm so unerträglich, dass er sich 30 Jahre später, in den 1970er Jahren, freiwillig der Miliz stellte. Er riskierte eine jahrelange, vielleicht sogar lebenslängliche Gefängnisstrafe. Er hatte Glück. Der Beamte an diesem Tag hatte vielleicht keine Lust einen so alten Fall aufzurollen oder hatte mit meinem Großvater Mitleid. Wir wissen nicht, was seine Beweggründe waren. Jedoch wimmmelte er ihn mit der Anweisung ab, nicht wiederzukommen und ja nicht irgendwem zu erzählen, dass er hier war.

Schaschlik und Radieschen

20 Jahre nach dem meine Eltern, meine Schwester und ich Kasachstan im April 1994 verließen, und damit bereits unzähligen Verwandten nach Deutschland folgten, habe ich zum ersten Mal die Gelegenheit, mir ein eigenes Bild von meinem Heimatland zu machen. In Almaty, der mir bis dato völlig unbekannten ehemaligen Hauptstadt, halte ich seit meiner Ankunft Ausschau nach etwas, das ich vielleicht mit meiner Kindheit im Osten Kasachstans verbinde. Zwischen all den rasenden Autos, den Ampelschaltungen mit Sekundenanzeige und den hastig schreitenden Fußgängern erinnern mich jedoch lediglich Almatys Berge an jene um unser Haus in Zyrjanowsk. Wahre Kindheitserinnerungen kommen jedoch schon bald beim Essen auf. Allein der Klang der Gerichte – Beshparmak, Schaschlik, rufen in mir Bilder von Grillabenden und Tafelrunden mit vielen Gästen auf. Doch auch der Geschmack der Speisen ist nach 20 Jahren Abstinenz überraschend gewohnt. Die sauren Gurken sind hier nach wie vor eher salzig als sauer. Und den Radieschen hat in Kasachstan bisher keiner die Schärfe weg zu züchten gewagt, die Himbeeren, die die alten Frauen an den Straßenständen verkaufen, sind kleiner, fester und süßer im Geschmack.

24 Stunden Steppenpanorama

Um meine Reise in Richtung Ostkasachstan fortzusetzen besteige ich nach wenigen Tagen, wie täglich Hunderte von Kasachstanern, den abendlichen Zug nach Ustkamenogorsk. Reisedauer: 24 Stunden. Man reist in Abteilen à vier Pritschen. Wer eine von den unteren erwischt, hat Glück, denn sie sind schnell ausgebucht. Ich bin zu spät dran und lande auf der oberen Liege. Dafür habe ich von dort einen großartigen Ausblick auf die Unmengen an Proviant, die jeder Reisende kurz nach Betreten des Abteils auf dem ellenbogenbreiten Tisch ausbreitet und von nun an unermüdlich den anderen Fahrgästen zur Verköstigung anbietet. Plow, Manty, Blini, hartgekochte Eier und Almatys legendärer Apfel „Aport“ sind diesmal vertreten. Gott sei Dank bin ich auf die kasachische Gastfreundlichkeit vorbeireitet und teile meinerseits saure Gurken und walnussförmige Kekse mit Sguschjonka – einer Art Karamellcreme aus. In der Enge unseres Abteils werde ich von meinen Mitfahrern, dem 38 Jahre alten Russen Schenja und dem 29 Jahre alten Kasachen Nartay, schnell ins Gespräch verwickelt. Passagiere einfach ignorieren, so wie man es im ICE zu tun pflegt, ist hier undenkbar. Als ich erwähne, dass ich aus Deutschland komme, ist natürlich erst recht die Neugier geweckt, werden die üblichen Fragen gestellt: wissen die Deutschen, dass es unser Land gibt? Und wie ist es so bei euch? Stimmt es, dass alle so reich sind?

Heimat ist jetzt woanders

Der Sonnenuntergang vor der Abreise. | Bild: Olga Herschel

Als mich Schenja das fragt, muss ich an mich selbst und mein damaliges Bild von Deutschland denken als ich neun Jahre alt war. Einige Wochen vor der Abreise saß ich auf dem Schoß meiner Großmutter und sie beteuerte, dass man in Deutschland die Straßen mit Putzmittel säubere und es dort alles gebe, was ich mir nur denken kann, so gut würden wir es da haben. „Sogar die zolotaja rybka gibt es in Deutschland?“ fragte ich erstaunt. Leider kann ich mich nicht erinnern, ob meine Großmutter mir bei dieser Gelegenheit auch eröffnet hat, dass der Goldfisch, der einem jeden Wunsch erfüllt, ein Fabeltier der russischen Märchen ist.

Nartay fragt, ob ich schon verheiratet sei und warum noch nicht? So richtig überzeugend scheinen meine Ausführungen zu letzterem übrigens nicht zu sein. Schenja und Nartay lächeln höflich, gucken jedoch skeptisch. Mir wird klar, dass der wahre Grund schlichtweg der ist, dass ich Deutsche und nicht mehr Russin oder Kasachstanerin bin. Ich wurde in der deutschen Gesellschaft sozialisiert und in Deutschland wird nun mal selten der erste feste Freund geheiratet. Wie so manches Mal auf dieser Reise, versuche ich mir vorzustellen, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn meine Familie nicht ausgereist wäre. Hätte ich vielleicht schon eine eigene Familie? Welchen Beruf hätte ich gewählt und was würde ich über Europa denken?

Landleben ist wie zu Sowjetzeiten

Trotz der stickigen Luft im Abteil ist mir die Gesellschaft meiner beiden Mitreisenden mehr als recht. Beim Reden vergeht die Zeit schneller und so erzählen wir einander von einander und futtern uns durch 24 Stunden Dürre, Dünen und Steppenpanorama. Als der Zug zum letzten Mal vor Ustkamenogorsk hält, steigt Nartay aus und kauft an einem der kleinen Stände auf dem Gleis ein Souvenir für mich: einen Küchenmagneten mit dem Bild einer kasachischen Moschee. Zur Erinnerung an unsere gemeinsame Zugfahrt, sagt er zum Abschied.

In Ustkamenogorsk holt mich Irina, eine alte Schulfreundin meiner Mutter ab. Die Tage vor meiner Rückreise nach Berlin verbringe ich bei ihr und ihrem Mann Sergei in einem Dorf namens Rulicha. Irina und meine Mutter waren Nachbarinnen, kennen sich von Kindesbeinen an und haben über all die Jahre Kontakt gehalten. Gesehen haben sie sich seit 1994 nicht mehr– meine Eltern haben es nach wie vor nicht gewagt, nach Kasachstan, sei es auch nur für eine kurze Reise, zurück zu kehren. Irina ist Landtierärztin und lebt seit eh und je nach dem alten sowjetischen Modell der Selbstversorgung. Jeden Morgen um 5 Uhr geht sie ihre zwei Kühe melken, während Sergej die sieben Schafe und die beiden Hunde füttert und den Stall ausmistet. Aus der fünfprozentigen Milch ihrer Kühe macht Irina Butter, Quark und Sauerrahm. Anschließend kümmert sie sich um die Pferde, Kühe und Schafe der Bauern in der Gegend. Nachmittags wird der Gemüsegarten gegossen, etwas angepflanzt oder geerntet. Ich helfe den beiden so weit ich kann und genieße das Landleben, insbesondere den abendlichen Besuch der russischen Sauna, Banja. Auf dem Land scheint sich nicht viel getan zu haben– unser Leben sah 1994 ziemlich ähnlich aus, auch wenn wir keine Nutztiere hatten.

Neues Nationalbewusstsein

Kasachstan war während der Sowjetunion jahrzehntelang ein von Russland beherrschtes Land. Ich erinnere mich, Kasachen kannte ich nur als Phänomen auf Volksfesten. Bei nationalen Feiertagen konnte man sie in ihrer traditionellen Tracht beobachten, in einer Jurte sitzend oder auf Pferden reitend, Lamm-Schaschlik und Pferdemilch verkaufend. Heute ist das anders: Es gibt Kasachen in den Banken, den Geschäften, auf der Straße, im Restaurant; überall hört man die kasachische Sprache, Straßen und öffentliche Gebäude tragen kasachische Namen. Das Volk der Kasachen hat sich von der Folklore emanzipiert und ist nun Realität seines Landes. So fremd mir mein eigenes Heimatland in den beiden Wochen meiner Reise vorkam, eine Erkenntnis hat mich besonders gefreut: Kasachstan ist auch endlich wieder das Heimatland der Kasachen.

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