Anita Pendziałek ist eine Polin mit deutschen Wurzeln. Sie tanzt, baut Skulpturen aus Holz, fotografiert, dreht Videos – und macht deutsches Radio. Sie pendelt zwischen der Kreisstadt Ratibor und ihrem Heimatdorf Gammau, wo fast nur Oberschlesier mit deutschen Wurzeln leben.Der Artikel erschien zuerst auf dem Portal „Kulturen des Wir“ des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa). Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung.


„Hier ist ‚Radio Mittendrin‘, Ihr deutschsprachiges Radio in Oberschlesien.“ Hinter dem Mikrofon im Sendestudio der kleinen Redaktion in Ratibor sitzt Anita Pendziałek. Konzentriert schaut die 29-jährige Redakteurin auf ihr Blatt, rückt die dunkle Brille zurecht und nimmt dann wieder Blickkontakt mit dem Technikraum auf. Sie streicht die Haare aus der Stirn, das schwarze Jackett sitzt über der schwarzen Bluse, der blonde Pferdeschwanz wippt im Rhythmus ihrer Ansage. An den Wänden des kleinen Senders in der polnischen Kreisstadt, rund 400 Kilometer südöstlich von Dresden, hängen Redaktionspläne auf Deutsch, eine kleine Deutschlandfahne und vereinzelt Postkarten.

„Radio Mittendrin“ ist ein Sender, der seit 20 Jahren für und über die deutsche Minderheit in Oberschlesien berichtet. Am Redaktionstisch sitzen mit Anita Pendziałek zwei 16-jährige Schüler aus Ratibor und ein Abiturient aus Thüringen. „Was ist die Aufgabe von Medien? Welche Rolle haben Journalisten?“, fragt die Redakteurin mit fester Stimme auf Deutsch in die Runde. Ihre Augen folgen konzentriert der Diskussion, sie nickt zustimmend, wirft hier und da etwas ein. Beharrlich fragt sie nach, lässt nicht locker, bis sie mit der Antwort der Praktikanten zufrieden ist. Nach einer Stunde sind ihr Einführungskurs in den Journalismus und damit der erste Tag in der Redaktion für die jungen Kollegen beendet.

Deutsche Reime nach dem Abendgebet

Wenn Anita Pendziałek spricht, mischen sich manchmal oberschlesische und polnische Worte in ihr Hochdeutsch. Ihr erstes Deutsch hat sie lange vor dem Germanistikstudium als Kind von Disneys Märchenvideos, ihren Großeltern und dem Vater gelernt: „Immer nach dem Gebet lasen wir deutsche Gedichte, Kinderreime und sangen deutsche Lieder. Das war unser Abendritual“, erinnert sie sich. Mit ihrer Familie redet sie Schlesisch. Auf der Suche nach einem Praktikum ist sie vor zehn Jahren zum Sender „Mittendrin“ gekommen. Pro Woche produziert sie mit drei Kollegen zwei Stunden Radio, schreibt fürs Internet und für eine Zeitung, meist über kulturelle Aktivitäten der deutschen Minderheit in der Gegend.

„Ich arbeite für Menschen, die so sind, wie mein Opa war“, sagt Anita Pendziałek. „Allen Menschen ist er mit Achtung begegnet, ein wundervoller Mensch“, schwelgt sie in Erinnerungen. Ihr Großvater Franz Kachel ist gestorben, da war sie elf. Er habe ihr viel von ihrer Familiengeschichte beigebracht und so ihr Interesse an der deutschen Kultur geweckt. „Er hat mich in die Minderheitensache geschubst“, lacht sie.

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Der Geruch von Großvaters Schmiede

Franz Kachel war Schmied. „Noch heute kann ich mich an den Geruch seiner Werkstatt, an die Flammen, an den Lärm des Blasebalgs und an die Schläge seines Schmiedehammers erinnern.“ Oft hätten sie gemeinsam zu Mittag gegessen. „Er hatte einen kleinen Radiorekorder und ein Kästchen mit Kassetten. Sonntags nach dem Essen gab es dann tschechische Blasmusik, Andy Borg oder Heino. Immer hat er kräftig mitgesungen.“ Sie denkt oft an ihn und daran, dass er sie auf Schlesisch immer „Złoto dzioszka“ genannt hat – Goldmädchen.

Bis zu 300.000 Mitglieder hat die deutsche Minderheit in Polen, schätzt die deutsche Botschaft in Warschau. Die meisten leben in Oberschlesien, wo sie in manchen Gemeinden mehr als 20 Prozent der Bevölkerung stellen. Damit sind die Deutschen die drittgrößte Minderheit im Land. Viele von ihnen haben Verwandte in Deutschland. Auch die älteren Brüder von Anita Pendziałek und ihre Schwester leben mit ihren Familien dort.

Schlesisch und Deutsch sind die Sprachen der Familie

Mutter Maria und Vater Ernest sind in einer Zeit zur Schule gegangen, in der es verboten war, Deutsch zu lernen. Perfektes Hochdeutsch kennen die Eltern von ihrer Tochter und aus dem Fernsehen. Von der Redaktion in Ratibor bis zum Haus der Pendziałeks sind es zwölf Kilometer. Es liegt am Rande von Gammau – einem schlesischen Dorf mit 300 Einwohnern, mit einem Laden, einer Pfarrschule und einer Autowerkstatt. Wenn Anita im Dorfladen Brötchen und Butter holt, wird sie auf Schlesisch angesprochen. Sie ist in Gammau aufgewachsen.

Gammaus Häuser liegen in ein Tal geschmiegt, mitten in den sanften Hügeln der Schlesischen Tiefebene, umgeben von Feldern voller Kartoffeln, Mais und Weizen. „Die Menschen in Gammau sagen im Scherz zu mir, dass ich nicht hierher passe. Weil ich in der Stadt arbeite, weil ich Radiomoderatorin bin, weil ich studiert habe, weil ich auf Reisen gehe. Sie meinen immer: Was machst du noch hier?“

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Für jeden Junggesellen ein Mädel aus dem Dorf

Die meisten in Gammau arbeiten in der Landwirtschaft. Üblicherweise bewirtschaften Sohn, Vater und Großvater gemeinsam einen Hof. Ihr gesamtes Leben verbringen sie im Dorf. Nur wenige arbeiten außerhalb. Früher gab es die Regel, dass sich jeder Junggeselle ein Mädchen aus Gammau zur Frau nehmen muss, damit das Ackerland der Familie im Dorf bleibt. Heute lacht man darüber. Wenn Familie Pendziałek zusammenkommt, sind zwei Schwager dabei – einer ist Kroate, ein anderer Tscheche – und die Frau des Großonkels, eine Englischlehrerin von den Philippinen, die an einer hiesigen Universität lehrt. Am Tisch geht es dann zwischen Schlesisch, Polnisch, Deutsch und Englisch hin und her.

Das Haus von Anitas Eltern ist nicht nur ihr Wohnort, sondern auch ihr Rückzugsort. Die besten Ideen kommen ihr hier, auf dem Dachboden, den ihr Vater für sie in eine Werkstatt umgebaut hat. Dort stehen ihre Schätze: Holzfiguren, Ölfarben, Palette und Pinsel. Während sie einen frischen leinenbespannten Rahmen auf die Staffelei stellt, erzählt sie von ihren Plänen. Mit ihrem Freund produziert sie Musikvideos für Newcomer-Bands, die modernen polnischen Jazz auf die Bühnen der Gegend bringen. „Ich bin das Mädchen für alles“, lacht sie. „Mache Ton, Regie und Licht.“ Die Drehbücher für die Videos hat sie auch verfasst.

Jahrzehntelanges Deutschverbot

Anita Pendziałek bückt sich, krault herzhaft ihren schwarzen Hundewelpen Nougat hinter den Ohren und holt unter ihrem Arbeitstisch eine dicke Zeichenmappe hervor. Auf dem Karton darin tummeln sich drei Comicfiguren. Jeden Monat denkt sich die Künstlerin ein witziges Abenteuer mit ihnen für das zweisprachige Internetportal „Bilingua“ aus. Es richtet sich an Kinder, die Deutsch lernen und lesen wollen. „Sie sollen Spaß dabei haben“, sagt sie. Die Arbeit für „Bilingua“ sei eine Abwechslung zu ihrem Redaktionsalltag, denn die Mehrzahl der Hörer von „Mittendrin“ seien deutschstämmige Oberschlesier im Rentenalter. „Für sie berichten wir von den KuKs“, lacht sie.

KuKs – diese Abkürzung benutzt Anita Pendziałek für die Kaffee– und Kuchenkränzchen, zu denen sich die deutschen Oberschlesier regelmäßig treffen. Immer wieder zaubert die liebevolle Wortschöpfung ein schelmisches Lachen in ihr Gesicht. Doch das war nicht immer so. „Als ich vor zehn Jahren hier beim Radio anfing, konnte ich nicht verstehen, warum die Männer und Frauen in und um Ratibor ihre Kaffeekränzchen derart lieben“, erzählt Anita. Am Anfang arrangierte sie sich mehr schlecht als recht damit. Das änderte sich abrupt, als sie am Projekt „Underground“ teilnahm. Dafür hatte die Redaktion Erinnerungen jener Schlesier zusammengetragen, deren Identität die sozialistische Regierung ausradieren wollte, als Reaktion auf die Verbrechen, die Nazideutschland in Polen verübt hatte. „Erst durch diese Gespräche ist mir das Ausmaß der Unterdrückung nach dem Zweiten Weltkrieg klargeworden.“

Jahrzehntelang war es in Oberschlesien verboten, Deutsch zu sprechen. Bis Ende der 1980er Jahre trafen sich die Leute heimlich in Kellern, um Gedichte vorzulesen, Heimatlieder zu singen und miteinander Deutsch zu reden. Jeder Besuch beim Nachbarn galt als unangemeldete Versammlung und wurde von den Behörden verfolgt. „Als ich das erste Mal hörte, dass ein Deutscher eine Kassette mit Heino heimlich im stillen Kämmerlein überspielte, damit ein anderer sie sich zu Hause ganz leise anhören konnte, verstand ich endlich, warum sie ihre Kaffeekränzchen so genießen. Denn erst seit dem Ende des sozialistischen Polens 1990 können sie sich treffen und offen Deutsch miteinander reden. Einen Kaffee und ein Stück Kuchen – mehr brauchen sie dazu nicht.“

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Zwischen Warschau und Berlin

Seit 2011 ist Anita Pendziałek fest ins Redaktionsteam von „Mittendrin“ eingebunden und entscheidet seitdem mit, welche Themen das kleine Lokalradio ausstrahlt. „Wir berichten über alles, was die deutsche Minderheit angeht.“ Von dem dreistöckigen Haus, in dem die Redaktion sitzt, sind es 500 Kilometer bis Berlin, 370 Kilometer in entgegengesetzter Richtung nach Warschau. Finanziert wird „Mittendrin“ von Polen und von Deutschland. Das sei nicht immer einfach, denn das Warschauer Innenministerium sehe die Minderheit nur als Element der nationalen Folklore, sagt Pendziałek.

„Die Regierung betrachtet uns als Polen, wir möchten jedoch als Deutsche in Polen Anerkennung gewinnen.“ Anita Pendziałek beobachtet die Politik in Warschau und in den Regionen, interessiert sich dafür, was die Menschen um sie herum denken – und sie spricht mit ihnen. „Ich mag Diskussionen, dadurch kann ich mich weiterentwickeln“, erklärt sie. Gerade erst hat sie Germanistikstudenten aus Ratibor eingeladen, um über einen Film zu Hannah Arendt und den Totalitarismus zu diskutieren.

Bilder von Auschwitz

Durch solche Treffen möchte sie die Minderheit vor allem für junge Leute zugänglich machen. „Als ich vor zehn Jahren hier anfing, war ich entsetzt, wie die Menschen auf uns reagieren.“ Damals hatte die Redaktion mit dem Gründer eines Ratiborer Informationsportals vereinbart, auf einer seiner Unterseiten Texte hochzuladen. Kaum waren die Artikel online, kamen Kommentare mit Bildern von Hakenkreuzen und Auschwitz. „Für mich ist es mittlerweile normal, dass die Menschen so reagieren.“ Anita hält eine Weile inne. „Es ist nicht normal. Aber ich habe mich daran gewöhnt“, ergänzt sie.

„Es sind vor allem die alten Leute, die die deutsche Besatzung nicht vergessen haben“, erzählt Anita Pendziałek. Dem nationalsozialistischen Regime fielen von Kriegsbeginn bis 1945 knapp sechs Millionen polnische Zivilisten zum Opfer. Gezielt wurde die polnische Intelligenz vernichtet, polnische Zeitungen, Bibliotheken und Hochschulen geschlossen.

„Ich bin Deutsche und Polin.“

Manchmal komme es ihr vor, als müsse sie sich für eine Identität entscheiden. „Aber ich fühle mich als beides, als Deutsche und als Polin. Wirklich beides.“ Es anders zu sagen, würde sie nicht übers Herz bringen. „Ich bin hier aufgewachsen, meine Freunde sind Polen. Ich esse schon mein ganzes Leben polnisches Brot.“ Auf der anderen Seite sei da ihre Familie – ihre Wurzeln – die sie nicht einfach ignorieren könne.

Anita Pendziałek träumt davon, an der Uni zu lehren, am besten Journalismus. Gerade lernt sie Spanisch und Klavierspielen, geht tanzen und arbeitet in Ratibor als Stadtführerin. Immer wieder lässt sie sich etwas Neues einfallen und ist viel unterwegs. An einem Wochenende fährt sie zur Dolmetscherprüfung nach Warschau, am nächsten trägt sie mit Freundinnen in selbstgenähten Trachten den Erntedankkranz ihres Dorfes beim Woiwodschaftstreffen durch die Nachbargemeinde.

 

Mit seinem Bereich Integration und Medien unterstützt das ifa deutsche Minderheiten in Mittel-, Ost– und Südosteuropa und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Minderheiten, die gesellschaftlich anerkannt sind und über attraktive Programme verfügen, sind Mittler zwischen den Kulturen. Sie geben wertvolle Impulse für ein Zusammenleben in Vielfalt. Mit seinen Projekten und Programmen will das ifa zum europäischen Einigungsprozess und zu den kulturellen Beziehungen innerhalb und außerhalb Europas beitragen.

Ulrike Butmaloiu

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