Die angehende Journalistin Anne Grundig zieht für ein halbes Jahr nach Kasachstan. Bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung erhält sie einen intensiven Einblick in Politik, Umwelt, Kultur und Wirtschaft Zentralasiens. Durch ihre Erfahrung fühlt sie sich in ihrem Bauchgefühl bestätigt, dass Kasachstan nicht nur in der Region wichtig ist, sondern bald eine größere Rolle in der Welt spielt.

„Rachmet“, wiederholt Ulan geduldig und zeigt mit dem Finger auf seinen Rachen. „Hörst du wie ich das ‚R‘ rolle? Rrrrrr“, demonstriert er und ich starre auf seinen vibrierenden Kehlkopf. „Rachmet“, heißt Danke und ist das erste kasachische Wort, das ich von einem jungen Taxifahrer auf dem Weg zum Großen Almaty See lerne. Er lacht abermals, denn mein deutscher Gaumen ist schier unfähig, das R geschmeidig zu rollen. „Warum willst du Kasachisch lernen?“, fragt er mich verwundert. „Warum nicht?“, erwidere ich, worauf er perplex den Kopf schüttelt. „Ich habe noch nie jemanden aus dem Ausland getroffen, der Kasachisch lernen will“, gesteht er, während er konzentriert das Auto über die schlangenförmigen Straße den Berghang hinauffährt.

Ein halbes Jahr in Kasachstan

Für mein Studium zieht es mich für ein halbes Jahr in das zentralasiatische Wüsten– und Steppenland. Für mich scheint es als selbstverständlich, die Sprache zu lernen. „Kasachisch ist bunt, bildhaft, malerisch schön“, erklärt mir Aidana, eine junge Kasachin, die ich in Almaty kennenlerne. Auch sie lacht, als ich versuche, ganze kasachische Sätze auszusprechen. „Warum willst du es lernen? Jeder spricht Russisch hier“, reagiert sie überrascht wie der Taxifahrer.

Mein Weg nach Zentralasien

Kasachstan ist das zweite Land, das ich in Zentralasien besuche. Einige Jahre zuvor reiste ich im Rahmen eines Wassermanagement-Projekts nach Kirgisistan und verliebte mich in die endlose Steppe im Bezirk Naryn, der circa drei Stunden von Bischkek entfernt liegt. Ich blickte in das klare Wasser des Issyk-Kul-Sees, in dem sich die Wolken spiegelten. Ich wohnte und aß in einer traditionellen Jurte – das Zuhause der Nomaden. Abgebaut passt es auf den Rücken von wenigen Pferden. Ich bereiste die Gletscher in der Region Kochkor und wohnte eine Zeit lang im Dorf Kara-Suu. Dort wandern Kühe, Esel und Pferde frei auf den Straßen umher und die Menschen pflegen einen Garten nicht zu ihrem Vergnügen, sondern zur Selbstversorgung. Bischkek wirkte wie eine andere Welt: Einkaufszentren, Bürohäuser, Autolärm, Frauen in schicken Absatzschuhen und Männer in Anzügen.
Kirgisistan fesselte mich und weckte mein Interesse an Zentralasien. Es brauchte keine lange Überlegung, wohin es mich für mein Auslandspraktikum hinverschlagen würde. Es zog mich direkt ins Herz von Zentralasien, nach Kasachstan.

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Kasachstan? Ist das nicht gefährlich?

„Nach Kasachstan?“, wiederholt meine Studienbeauftragte, um sicherzugehen, mich richtig verstanden zu haben. Ihre Finger tippen nervös auf dem Tisch, während sie meinen Praktikumsantrag akribisch durchgeht. „Kasachstan? Das liegt doch bei Afghanistan? Ist das nicht gefährlich?“, schlussfolgert sie und ist mit dieser Annahme nicht allein. Viele meiner Kommilitonen und Freunde reagieren skeptisch und erstaunt über meine Wahl. „Mit deinen Englischkenntnissen hättest du in die USA, nach Großbritannien oder Australien gehen können!“, schlägt eine Freundin vor. „Verdammt, wo liegt dieses Kasachstan überhaupt?“ Eine Frage, die ich oft zu hören bekomme. Ein Kommilitone ordnet Kasachstan neben Rumänien auf der Landkarte ein, andere warnen mich vor Kriminellen und Terroristen, und einer fragt mich sogar, wie ich monatelang ohne fließendes Wasser auskäme. Kasachstan ist noch immer ein Mysterium für viele Deutsche, obwohl in dem zentralasiatischen Land eine deutsche Minderheit lebt.

„Warum muss es ausgerechnet Kasachstan sein?“, fragt mich meine Studienbeauftragte abermals, als wir uns wochenlang durch den bürokratischen Aufwand für ein Visum und Stipendium quälen. „Es ist eine Welt, die ich noch nicht kenne, aber kennenlernen will. Wie kann ich die Welt verstehen, verlasse ich nicht meine Komfortzone?“ Kasachstan ist wichtig, Zentralasien ist wichtig! Das sagt mir mein Bauchgefühl.

Komplex und kunterbunt

Mittlerweile sind fünf Monate vergangen und mein Bauchgefühl hat sich in Gewissheit verwandelt. Kasachstan befindet sich geopolitisch in einer interessanten Lage: im Norden ist Russland, im Osten liegt China, im Westen wähnt man die frischesten Vorposten Europas (Georgien, Ukraine etc.) und südlich, hinter Usbekistan, liegt Afghanistan, das von Krieg und Terrorismus gekennzeichnet ist.
Kasachstan spielt zudem eine Vorreitrolle innerhalb Zentralasiens, denn es ist nicht nur die größte, sondern auch die politisch, wirtschaftlich einflussreichste Nation. Die riesigen Ölreserven lassen die einheimische Wirtschaft wachsen, wodurch Kasachstan die restlichen Länder der Region weit hinter sich lässt. Mit über 17 Millionen Einwohnern ist Kasachstan das am dichtesten besiedelte Land Zentralasiens. Grob überschlagen könnten beinahe alle Kasachen in der türkischen Metropole Istanbul wohnen, die circa 14 Millionen Einwohner fasst. Die Einwohnerzahl mag klein ausfallen, desto größer ist die multiethnische Vielfalt. Laut Landesstatistik leben in Kasachstan Angehörige von mehr als 120 Ethnien, wobei Russen die größte Minderheit bilden. Zu den turksprachigen Minderheiten zählen Usbeken, Tataren, Mescheten und Aserbaidschaner sowie kleinere Gruppen, u.a. Baschkiren und Turkmenen. Weitere Minderheiten sind Uiguren aus China, und Ukrainer, Deutsche, sowie kleine Gruppen aus Polen, Lettland, Litauen und Weißrussland aus Europa. Kasachstan ist eine vielseitige, junge Republik, die im vergangenen Dezember ihren 25. Unabhängigkeitstag feierte.

Kasachische Kultur

„Gibt es eine kasachische Kultur, eine Nationalität?“, frage ich Aidana, worauf sie mich nachdenklich anschaut. „Ich denke, wir müssen uns erst noch finden“, antwortet sie leise, als wäre es ihr unangenehm. „Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch nie nachgedacht: über eine kasachische Kultur“, gesteht sie, „Die Republik ist ja nicht viel älter als du und ich. Seit wann gibt es die deutsche Nation?“, fragt sie, worauf ich erwidere: „Seit der Reichsgründung 1871 unter Bismarck.“ Aidana rechnet konzentriert nach und schlussfolgert, dass Deutschland demnach 145 Jahre alt ist. „Ein Rentner, der seinen Platz in der Welt gefunden hat“, schmunzelt sie.

Brücke statt Mauer

Deutschland hat auch einen Platz in Kasachstan gefunden – nicht nur aufgrund der deutschen Minderheit, sondern auch aus politischen sowie wirtschaftlichen Gründen. Die diplomatische Zusammenarbeit der Länder feiert dieses Jahr das 25. jährige Jubiläum. Ein Wort, das ich seitens der Deutschen oft höre, lautet „Brückenbauer“. Kasachstan soll eine Brücke schlagen zwischen Europa und Asien, das ist das Ziel. Aber solch eine enge Verflechtung wünscht sich nicht nur Deutschland bzw. die EU oder die USA, sondern auch globale Spieler aus den anderen Himmelsrichtungen. Russland, China, der Iran sowie die Türkei ringen um Einfluss in dem geopolitisch wichtigen Gebiet.

Kasachstan setzt auf Diplomatie

Wohin dreht sich die kasachische Sonne? In welche Richtung breitet der Adler seine Flügel aus? Kasachstan will seine guten Beziehungen zu Russland wahren und gleichzeitig die zur NATO weiter ausbauen. Zudem setzt es auf enge bilaterale Beziehungen sowohl mit Israel als auch mit dem Iran. Zu den Türken hegen die Kasachen eine spezielle Verbindung, da beide Nationen den Turkvölkern angehören. Mit den Chinesen werden Milliarden-Dollar-Abkommen im Bereich der Öl– und Gasindustrie geschlossen. Außerdem liegt Kasachstan im Zentrum der Seidenstraße, wodurch es eine bedeutsame Rolle innerhalb des Wirtschaftsgürtels von China nach Europa einnimmt. Aufgrund dieser Lage nehmen Projekte für Pipelines, Eisenbahnstrecken, See– und Flussrouten, Fluglinien sowie Autobahnen zu. Dadurch ist ein Austausch in alle Himmelsrichtungen offen. Ebenso spielt Kasachstan eine Schlüsselrolle innerhalb der islamischen Welt, so sind etwa 70 Prozent der kasachischen Bevölkerung sunnitische Muslime.

Darüber hinaus bemüht sich Kasachstan um eine Zusammenarbeit zwischen den regionalen Staaten, die bisher recht porös ist. Das liegt unter anderem daran, dass Turkmenistan eine Politik der Selbstisolation betreibt und Usbekistan vor allem auf bilaterale Beziehungen setzt. Bisher sind nur Kasachstan und Kirgisistan Mitglieder des postsowjetischen Integrationsprojekts Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU), wobei Tadschikistan den Beitritt anstrebt.

In Anbetracht zukünftiger Herausforderungen ist eine engere Kooperation der fünf Staaten wünschenswert. Gemeinsam lassen sich Probleme leichter lösen – sei es die Frage um nachhaltige Wassernutzung in Zeiten des Klimawandels oder die Abwehr der Terrormiliz „Islamischer Staat“, die aus Afghanistan überzuschwappen droht.

Ruhend im Zentrum trotz unruhiger Zeiten

Wer sich die kasachische Flagge anschaut, entdeckt eine goldene Sonne samt Adler ruhend im Zentrum. Die türkisblaue Farbe wirkt wie der endlose Horizont der Steppe. Die Flagge strahlt Ruhe, Kraft und Besonnenheit aus – Eigenschaften, die dem Land zu wünschen sind. Es warten große sowie kleine Entscheidungen auf Kasachstan, die es auf der Weltbühne sowie vor der eigenen Haustür zu fällen gilt. Herausforderungen, die dazu führen, dass Kasachstan aus dem Schatten hervortritt und an Bekanntheit gewinnt.

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So blickt die Welt 2017 ins Herz Zentralasiens: Unter anderem Januar und Februar, zu den Syrien-Friedensgesprächen in Astana sowie zu der Winteruniversiade. Im Juni, wenn die EXPO 2017 für vier Monate Menschen aus aller Welt in das Steppenland einlädt.

Alles eine Frage der Kommunikation

„Warum willst du nun Kasachisch lernen“, fragt mich der Taxifahrer ungeduldig, als er das Auto zum Stehen bringt. Vor mir schlummert der türkisblaue Almaty See umrandet von Bergen, die wie gigantische Wächter wirken. Früher wanderten viele von hier direkt nach Kirgisistan, das keine 30 Kilometer entfernt liegt. Heute ist die Route geschlossen und man darf sich dem Ufer keine 30 Meter nähern. Auf dem Damm entdecke ich einen Polizisten in blau-schwarzer Uniform, an dessen Schulter eine Kalaschnikow baumelt. „Am Ende ist alles eine Frage der Kommunikation. Solange wir nicht alle dieselbe Sprache sprechen, müssen wir uns bemühen, einander zu verstehen“, wende ich mich Ulan zu, der mir eine Handvoll Wechselgeld entgegenstreckt. „Rachmet“, rollt es über meine Zunge, worauf er sich lächelnd mit einem „Priwet! Rachmet und auf Wiedersehen!“, verabschiedet.

Anne Grundig

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