In meinen Tagträumen rette ich immer mal wieder die Welt. Tatsächlich bekomme ich selten die Gelegenheit dazu. Zuletzt dann doch. Und niemand hat es gemerkt. Ich bestieg meinen Zug nach Frankfurt und wollte mich gerade gemütlich in meinen Sessel lümmeln, meinen Kaffee schlürfen und in die Zeitung spicken – als sich nicht fern von meinem Platz eine kleine Aufgeregtheit zutrug. Eine Dame bemerkte, dass sie im falschen Zug war, die Türen aber schon geschlossen waren. Sie versuchte noch rauszukommen, was misslang. Oh je, die Ärmste! nickten wir anderen Fahrgäste uns aufrichtig mitfühlend zu und zogen unsere Köpfe wieder zurück.

So was passiert eben, kann man nichts machen, an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen, umkehren. So hätten wir es wohl gesehen. So sah das aber nicht die Dame. Die aufgebrachten, fast quiekenden Laute zeigten eindeutig an, dass sie ehrlich in Not war. Hier musste gehandelt werden. Irgendein Instinkt ließ mich blitzschnell nach dem Faltblatt greifen und zu ihr hineilen. Gerade noch rechtzeitig. Sie hatte schon ihre Hand an der Notbremse. Anscheinend ging es hier um größere Probleme.

Um weitere Notbremsenhandgriffe zu vermeiden, musste schleunigst geprüft werden, worum es ging. Mein Direkt-Scan ergab: Sprache? Kein Deutsch. Kein Englisch. Mist. Zugpersonal? Weit und breit niemand zu sehen. Na, prima. Da, ein Laut. Russisch. Na, immerhin! Meine Zunge war jedoch nicht so schnell am Start wie der Rest. „Hey, Hallo, Hirn, stell mir sofort mein Russisch zur Verfügung, das ich irgendwann mal vor Jahren gelernt habe, und zwar bitte alle Vokabeln, die man für Reiseauskünfte und zur Beruhigung panischer Frauen benötigt.“ Mein Hirn war noch im Morgendämmerzustand: „Äh, ja, oh je, ich bin nicht im Training … Verkehrsmittel … ui … wieso brauchst du denn jetzt auf einmal … OK, hier hast du ein paar Brocken Smalltalk, fang schon mal an, ich stelle dir währenddessen was Passendes zusammen.“

Wo sie denn hinwolle. Essen, aha. Und was dort auf sie warte. Ob es tatsächlich eine Katastrophe bedeute, wenn sie da jetzt nicht auf dem direkten Weg ankäme. Ja, für sie persönlich wäre es eine Katastrophe. Nicht schön, aber hier hatten wir es mit einer übersichtlichen Katastrophe zu tun. Persönliche Probleme lassen sich besser lösen als Massenphänomene. Weiter. Ob sie in Essen ein … äh… „Hirn, ich brauche JETZT das Wort Flugzeug!“ „Kommt gleich … versuchs doch schon mal mit Flughafen, das hätt ich parat.“ Gut, so ging es. Das Wort Flughafen beeindruckte die Frau überhaupt nicht. Also galt es kein Flugzeug zu stoppen. Das machte Hoffnung. Fand die Dame allerdings nicht. Wieder der Griff zur Notbremse.

Da die Frau nicht den Eindruck zu haben schien, dass hier ihr Problem gelöst wurde, musste ich schneller oder schlauer agieren. Da, endlich half auch das Notfallopfer. Ob sie telefonieren dürfe. Ich zögerte. Mit dem Handy nach Russland?! Schnelle Konsequenzanalyse: Teures Telefonat versus notgebremster Zug mit allen Katastrophen, die das nach sich zieht … Ja, lohnt sich. Einverstanden. Doch es war eine deutsche Vorwahl. Umso besser. Sie erklärte ihrem Sohn, was passiert war. Ich erklärte ihrem Sohn, was zu tun sei. Dann erklärte ihr der Sohn, was zu tun sei.

An der nächsten Haltestelle raus und in den nächstbesten Zug in die andere Richtung. Ob das Geld koste. Wahrscheinlich nicht. Dann sei ja alles halb so wild. Die Stimme des Sohnes hatte die Dame so weit beruhigt, dass sie nun aufnahmefähig für die Daten und Fakten war: wann sie wo in welchen Zug steigen musste. Allein, diese Fakten hatten wir noch nicht. Die nächste Haltestelle wurde in wenigen Minuten erreicht. Endlich, ein Schaffner. Der aber gar nicht unser Schaffner war, sondern Dienstschluss hatte und auch nur als Fahrgast mitfuhr. Dafür wusste er aber, dass auch mindestens eine andere Dame fälschlicherweise unseren Zug bestiegen hatte, aber nach Essen wollte. Ich fragte die Dame, ob sie so freundlich wäre, eine andere Dame hinter sich herlaufen zu lassen. Ja, na gut. Prima.

Wir waren alle miteinander froh und atmeten hörbar auf. Ich wurde zum Abschied noch mal fest gedrückt und feucht geküsst, ließ mich erschöpft in meinen Sessel fallen und stellte mir vor, was für ein Schaden entstanden wäre, wenn die Dame tatsächlich die Notbremse gezogen hätte. Das wäre richtig teuer geworden. Nicht nur die Strafe für die Dame. Sondern auch der volkswirtschaftliche Schaden durch die Verspätungen. Womöglich hätten sich durch den jähen Halt einige Fahrgäste beim Umpurzeln verletzt. Die Polizei hätte kommen müssen. Unser Zug hätte die Strecke versperrt und all die Züge hinter uns. Wahnsinn! Und all das habe ICH verhindert. Und niemand ahnt und würdigt es. Niemand dreht einen Film darüber. Na, wenigstens kommt es in die Zeitung.

Julia Siebert

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