Im Rückblick ist fast alles immer einfach, klar und plausibel. Gut daran ist, dass man sich in allen Angelegenheiten irgendwann im Rückblick befindet. Doof daran ist, dass die Phase, auf die man irgendwann zurückblickt, meist sehr lange andauert, während der Rückblick selbst sehr kurz ausfällt. Drum sollte man diese Rückblicksmomente vom hohen Gipfel der Übersicht, Aussicht und Einsicht in aller Form genießen, bevor man ins nächste tiefe Tal gerät, aus dem man sich wieder mühevoll zum Rückblick heraus- und heraufarbeiten muss.

Ich bin nach einer langen und zähen Phase der Eingeschränktheit wieder fit und alle freuen und wundern sich, dass ich überraschend wieder fit bin. Ich für meinen Teil freue mich sehr, dass ich wieder fit bin, aber wundere mich nicht, denn im Rückblick ist das gar nicht überraschend, sondern vollkommen logisch und plausibel. Es folgt eine Gegenüberstellung beider Perspektiven.

Als ich noch nicht im Rückblick war, sondern mitten im Schlammassel steckte, stellte sich die Situation wie folgt dar: Oh je, was ist es nur? Wieso geht es mir so schlecht, und wohin führt das noch? Bleibt es ein Leben lang, und was heißt das für meine Existenzsicherung? Führt es gar zum Offenbarungseid? Immer tut alles weh und nichts macht mehr richtig Spaß. Will und kann ich so leben? Ist es die Psyche oder der Körper? Wo fange ich an zu suchen, wo höre ich auf? Die verschiedenen vagen Diagnosen treiben mich noch in den Wahnsinn, die vielen Behandlungen in den Ruin.

Wie kriege ich die Naturwissenschaften mit den spirituellen Ansätzen vereinbart? Wie hängt das alles zusammen? Was kommt jetzt noch alles? Wer bin ich, was will ich, was kann ich, was brauche ich? Wieso geben alle ungebeten ihre Ratschläge und Meinungen ab, die sicherlich alle gut gemeint sind, aber an meiner Realität vorbeizielen? Wie rette ich mich davor, ohne zu vereinsamen? Oh, endlich jemand, der weiß, was er tut und sagt, jetzt kann es was werden. Die Richtung stimmt, das Ziel ist in Sicht, doch der Weg ist noch so zäh und lang. Immer ist noch etwas nicht in Ordnung, mir geht die Puste aus. Ach, ein Stückchen geht noch… usw. und das zweieinhalb Jahre lang tagaus, tagein. Wahnsinn!

Und jetzt der Rückblick: Hatten sich Schwermetalle in den Körper geschlichen und den Organismus durcheinandergebracht. Zu viele Leute haben das nicht entdeckt und mich falsch behandelt. Dann kam der richtige Heiler, hat‘s erkannt und es ruckzuck ausgeräumt. Und jetzt ist wieder alles gut, ich nehme meinen Job und meine Hobbys wieder auf, als hätte es das lange Elend nie gegeben. Rückblick eben!

Ich bin gespannt, auf was ich als nächstes rückblicken darf. Aber erst mal bleibe ich ein Weilchen auf meinem Gipfel der erlösenden Erkenntnis hocken und genieße die Aussicht.

Julia Siebert

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