Mikhail Denisenko forscht und lehrt an der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“ in Moskau. In seinen Publikationen beschäftigt er sich insbesondere mit den Themen Demografie und Migration. Jonas Prien hat mit ihm über die Folgen von Corona auf die Arbeitsmigration aus Zentralasien gesprochen.

Herr Denissenko, erst in diesem Jahr haben Sie zusammen mit Salvatore Strozza und Matthew Light ein Buch über die Migration innerhalb der ehemaligen Sowjetrepubliken veröffentlicht. Welche Trends und Ziele der Migranten konnten Sie im postsowjetischen Raum feststellen?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gestalteten sich die Migrationsströme folgendermaßen: Der größte Teil fand innerhalb des postsowjetischen Raums statt, vor allem in Russland und im geringeren Maße in der Ukraine und in Weißrussland. Weiterhin wanderten viele ehemalige UdSSR-Bürger ins Ausland aus (90 Prozent von ihnen immigrierten nach Deutschland, Israel und in die Vereinigten Staaten). Das Ziel der Migration war dabei allerdings ein ständiger Aufenthalt und keine vorübergehende Arbeitsmigration. Seit den 2000er Jahren änderten sich die Migrationsströme geografisch zugunsten Kanadas und der Europäischen Union. Innerhalb des postsowjetischen Raums blieben Russland und Kasachstan die beliebtesten Staaten. Außerhalb zeichnet sich ein unterschiedliches Bild ab, denn während Migranten aus der Ukraine, Georgien und Moldawien den Westen präferieren, ziehen jene aus Aserbaidschan in die Türkei und aus Belarus nach Polen sowie ins Baltikum.

Eine besondere Art der Migration ist die Arbeitsmigration, bei der meist nicht-qualifizierte Arbeitnehmer zu einem niedrigeren Lohn als einheimische Arbeitnehmer arbeiten. In welchen Branchen werden diese Arbeitskräfte besonders gebraucht? Woher kommen die Arbeitsmigranten in Russland ursprünglich?

Die Arbeitsmigration ist eine Migration vor allem von mittleren und gering qualifizierten Arbeitskräften. Sie werden überall dort eingesetzt, wo Arbeitskräfte mit entsprechender Qualifikation erforderlich sind – insbesondere im Baugewerbe, aber auch im Verkehr, im Wohnungsbau, in Versorgungseinrichtungen mit sozialen Dienstleistungen, im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Handel sowie im privaten Haushalt. Etwa 40 Prozent der Arbeitsmigranten kommen aus Usbekistan, 20 Prozent aus Tadschikistan, 8 Prozent aus Kirgisistan und der Ukraine. Es gibt auch eine Migration von hoch qualifizierten Fachkräften. So bleibt die Mehrheit der Absolventen russischer Universitäten, die aus anderen Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) stammen, in Russland.

Viele Arbeitsmigranten schicken einen enormen Teil ihres Lohns an die Familien in ihrem Heimatland. Wie profitieren die zentralasiatischen Länder von diesen Transfers? Glauben Sie, dass es sich um eine positive Investition in Schwellenländer oder um eine finanzielle Abhängigkeit vom ausländischen Geld handelt?

Die Überweisungen von Migranten spielen eine große positive Rolle, insbesondere in Tadschikistan, Armenien, Kirgisistan und Moldawien. Sie tragen maßgeblich zum Wohlstand der Bevölkerung bei und verbessern Sektoren wie Gesundheit und Bildung. Die Effizienz der Nutzung hängt allerdings vom Staat ab. Sie ist hoch, falls aus den Überweisungen direkt neue Investitionen werden. Im umgekehrten Fall werden die Einnahmen nur für den Konsum und die Ausbildung neuer Migranten genutzt. Dadurch kommt es aber zu einer komplizierten Verkettung, denn die Inflationsprozesse werden beschleunigt, woraufhin das Wirtschaftswachstum sich verlangsamt und die Importe steigen.

Welche Vorschriften für das Reisen und die Aufnahme einer Beschäftigung haben die Arbeitsmigranten aus Zentralasien nach Russland normalerweise und was kommt während Corona obendrauf? Sind Kostensteigerungen zu erwarten, wenn Arbeitsmigranten nicht nach Russland einreisen dürfen?

Für Arbeitsmigranten ist es nicht schwer, nach Russland einzureisen und eine Arbeitsgenehmigung zu erhalten. Die wichtigsten Beschränkungen sind vor allem die Finanzen (Kosten für die Arbeitserlaubnis und Unterkunft) und zeitlich limitierten Vorschriften (u. a. die Laufzeit der Arbeitserlaubnis). Während der Coronakrise ging der Zustrom von Arbeitsmigranten deutlich zurück, und zwar aufgrund der unterbrochenen internationalen Kommunikation. Im Vergleich zum Vorjahr kamen etwa 2,5 bis 3 Millionen Migranten weniger nach Russland. Deshalb stieg in einigen Branchen mit stark saisonaler Prägung die Nachfrage nach Arbeitskräften trotz des allgemeinen wirtschaftlichen Abschwungs in Russland. Dazu gehören etwa Bau, Hausreparatur, Landwirtschaft, Haushaltsdienst, und Transport, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften im Frühjahr, Sommer und Herbst stärker wächst.

Während der andauernden Quarantänemaßnahmen ist die Nachfrage nach arbeitsintensiven Jobs auf dem russischen Markt geringer. Welche Konsequenzen hat das für die Migranten? Werden sie andere Arbeitsmärkte suchen oder einfach nur in ihren Heimatländern überwintern?

Die meisten Migranten, die sich zu Beginn des Lockdowns in Russland aufhielten, blieben auch dort. Im Sommer und Herbst fanden sie genug Arbeit. Jetzt im Winter wird sich die Beschäftigungslage verschlechtern.

Immer wieder schlagen einige Politiker und Experten vor, sich stärker auf die Arbeitsmigration innerhalb Russlands zu konzentrieren, um ausländische Kapitalflüsse zu verhindern und die Armut auf dem Land zu verringern. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?

Meiner Ansicht nach stehen internationale Migration und Binnenmigration nicht miteinander im Wettbewerb. Internationale und inländische Migranten besetzen auf dem russischen Arbeitsmarkt unterschiedliche Nischen. Für das Wirtschaftswachstum ist es von großer Bedeutung, dass durch externe Migration auch in nicht-optimalen Demographien genügend Arbeitskräfte verfügbar sind. In Russland ist die Nachfrage nach Arbeitsmigranten vergleichbar mit den Vereinigten Staaten, Deutschland oder Polen, denn alle Länder weisen eine überalterte Gesellschaft trotz moderner Volkswirtschaft auf.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Jonas Prien.

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