Zerebrale Kinderlähmung – das bedeutete noch bis 1994 für betroffene Kinder in Kasachstan ein abgeschirmtes Leben fernab des öffentlichen Schulunterrichts. Das Rehabilitationszentrum in der nordkasachstanischen Gebietshauptstadt Ust-Kamenogorsk entwickelte ein eigenes Integrationskonzept – und schmiedet nun Pläne, die Einrichtung auf mehrere Städte auszudehnen

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand die Zukunft vieler Kindergärten in Frage. Im Kindergarten an der Straße der Petersburger Kommunarden 18 in Ust-Kamenogorsk erfüllte Sanja Iskandarowa 1994 einen besonderen Auftrag – die Schaffung eines Rehabilitationszentrums für Kinder mit zerebraler Kinderlähmung (Cerebralparese).

Die Cerebralparese bezeichnet Bewegungsstörungen, die durch Gehirnschäden während der Schwangerschaft entstehen können, aber auch während der ersten Lebensmonate, zum Beispiel durch Missbildungen, Infektionskrankheiten, Sauerstoffmangel, Gehirnblutungen oder Gelbsucht. Sie tritt mit einer Häufigkeit von 0,2 bis 0,3 Prozent auf. Krankheitszeichen sind spastische Lähmungen, die in verschiedenen Formen auftreten. Bei starker Beeinträchtigung der Großhirnrinde sind Persönlichkeitsstörungen und Intelligenzminderungen die Folge. Eine ursächliche Behandlung der Cerebralparese ist nicht möglich.

Vor der Gründung des Reha-Zentrums von Ust-Kamenogorsk blieben Kinder mit solchen Schäden meist zuhause, Zugang zu Unterricht hatten sie nicht. Es waren vor allem alte Erzieher des Kindergartens, die die Kinder nun unter dem Motto „Versuch es selbst!“ anzulernen versuchten. Eine noch aus Sowjetzeiten stammende Methode, die sich der stellvertretenden Direktorin und Verantwortlichen für Erziehung und Ausbildung, Olga Batujewa, zufolge als richtig erwiesen habe. Trotz der Schwierigkeiten des Anfangs, sagt sie, habe die Erziehung zur Selbstständigkeit Erfolg.

Die Gebietsverwaltung stimmte ihr zu: 1998 finanzierte sie die Einrichtung mit, und die Arbeit konnte zunehmend professionalisiert werden. In Großbritannien wurden Geräte zur Physio-Rehabilitierung erworben – neben Matten und einem Spielhaus ein aus Hose, Jacke, Kniestütze und Schuhwerk bestehendes „Kosmonautenkostüm“, das die Muskeln auf technisch komplizierte Weise entspannt.

Darüber hinaus gibt es im Reha-Zentrum viele Bewegungs- und Freizeitmöglichkeiten: einen Trainingssaal, ein Musikraum, ein Schwimmbad, eine Sauna und ein Schulgarten. Auch ein Gewächshaus wird es bald geben. Das Reha-Zentrum fungiert generell als Vorschule und Schule, derzeit bis zur sechsten Klasse, sowie als Internat für Kinder aus entlegeneren Siedlungen. Begabte Kinder werden in speziellen Zirkeln betreut, etwa in dem „künstlerischen Zirkel“, der momentan zehn Mitglieder zählt.

Doch wie kommen die an Cerebralparese leidenden Kinder überhaupt ins Reha-Zentrum? Die Einweisung erfolgt nach gründlicher Untersuchung durch einen Neuropathologen, danach nimmt sich eine medizinisch-psychologisch-pädagogische Kommission der Fälle an. Zurzeit sei es noch eine Herausforderung, die Cerebralparese frühzeitig zu diagnostizieren, bemerkt Olga Batujewa. „Im Frühstadium sind die Heilungschancen besser.“ Ein obliatorisches Screening könne allen Neugeborenen helfen.

Zur Selbstständigkeit erziehen, dieses Konzept setzt sich auch im schulischen Unterricht fort. Basierend auf dem System der Pädagogin W. Woronkowa vom „Institut für korrektive Pädagogik“ an der Russischen Akademie der Wissenschaften werden bei der schulischen Ausbildung vier Niveaus zugrunde gelegt. Sie reichen von individuellem Heimunterricht für stark ausgeprägte Behinderungen über ein vereinfachtes Programm bis zur erfolgreichen Aneignung der Anforderungen einer gewöhnlichen Schule. Für jedes der Niveaus wird ein eigenes Lehrprogramm ausgearbeitet. Soweit möglich, lernen die Kinder der verschiedenen Niveaus gemeinsam dem Alter nach in Klassen. Die Einteilung der Kinder in die Niveaus erfolgt dabei für jedes Unterrichtsfach gesondert und wird der individuellen Entwicklung stets neu angepasst.

Heute betreut das Reha-Zentrum 120 Kinder. Das Ziel ist ihre stärkere Integration in die Gesellschaft. „Integrativer Unterricht“ heißt dann auch das im Jahr 2000 begonnene, äußerst erfolgreiche Experiment in Kooperation mit einer Schule von Nicht-Behinderten. Kinder des Reha-Zentrums mit geringen körperlichen Behinderungen besuchen diese Schule regelmäßig. Die Klassenlehrer hätten sich ausnehmend positiv geäußert, erzählt Batujewa. Die Atmosphäre in den Klassen habe sich grundlegend verbessert.

Verständlich, dass bei solchen positiven Erfahrungen Pläne für einen Ausbau des Reha-Konzepts geschmiedet werden. In Pawlodar, Kostanai und Astana sollen ganz ähnliche Einrichtungen eröffnet werden, und außerdem ist eine Ausweitung auf neun Klassen beabsichtigt. Auf die Frage, welche Zukunftschancen Sanja Iskandarowa für ihre Schützlinge sehe, antwortet sie sehr konkret: 20 Prozent könnten als Facharbeiter tätig sein, 40 Prozent könnten eine sitzende Tätigkeit verrichten, zum Beispiel als Programmierer, und 15 Prozent als Lehrer oder Ärzte. Letzteres sei der Traum vieler Kinder. Und, erzählt Iskandarowa weiter, eine Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben heiße auch, die Träume der Kinder unterstützen. „Ich bewundere sie. Sie sind stärker als gewöhnliche Kinder, denn sie sind es gewohnt, mit Schmerzen zu leben. Sie sind geduldiger und widerstandsfähiger.“ Die staatliche, finanzielle Unterstützung bezeichnet Iskandarowa als „ausreichend“. Um die Integration behinderter Kinder in die Gesellschaft zu verbessern, müsse sich das Bewusstsein der Menschen ändern, sagt sie.

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