Nichts für Kulturkritiker: Die russische Tanzszene in Berlin erfreut sich bei Nachtschwärmern und Disconomaden immer größerer Beliebtheit

Ein Blick in die Stadtmagazine und ihre Programme für Nachtschwärmer und Tanzwütige bringt in letzter Zeit zunehmend immer mehr eine interessante Erkenntnis: Neben etablierten Musikstilen von Pop über Techno und Hiphop bis Soul hat sich in den letzten Jahren eine Musik ihren Platz im Berliner Ausgehprogramm erobert, die bis vor ein paar Jahren noch kaum jemanden hinterm Ofen hervorlocken konnte: Russische Popmusik.

Den Anfang dieses Trends machte wohl die inzwischen berühmt-berüchtigte „Russendisko“ Wladimir Kaminers und Juri Gurzhy im Berliner „Kaffee Burger“. Seit Ende der 90er Jahre legen die beiden alle zwei Wochen ihre Lieblingslieder auf und begeistern damit das großstädtische Tanzpublikum. „Etwa einhundert Russen, die Deutsche werden wollen, trafen auf ungefähr einhundert Deutsche, die Russen werden wollen“, schreiben Kaminer und Gurzhy in einem Bericht über eine der ersten Veranstaltungen. Mit 200 Leuten ist das Aufnahmekapazität des Kaffee Burger dann auch mehr als erschöpft.

Das Etablissement gleicht weniger einer Disko als vielmehr einem typischen Wohnzimmer aus einer vergangenen Ära. Es gibt vergilbte, braungemusterte Tapeten passend zur nussbraunen Holzvertäfelung, außerdem hellbraune Lampenschirmchen und Gardinen und mindestens 30 Jahre alte Kantinen-Preistafeln mit Angaben in (Ost-) „Mark“. Die Wende scheint an diesem Ort in Berlin-Mitte, einem ehemaligen Ostbezirk, spurlos vorübergegangen zu sein. Vom trendigen Schick des dritten Jahrtausends ist nichts zu sehen.

In den letzten Jahren hat sich die Mischung des Publikums jedoch stark zu Gunsten der Deutschen verschoben. Dass mit dem Wunsch, „Russe zu werden“, ist dabei gar nicht mehr so wichtig: Es reicht, das multikulturell allen verständliche „hey-hey“ mitzusingen, ansonsten verstehen die wenigsten die russischen Liedertexte. Was der Stimmung jedoch keinen Abbruch tut: Es wird ausgiebigst getanzt, getrunken, gesungen und geflirtet, und auch wer nicht tanzt, schwitzt allein von der heißen, stickigen Luft in dem kleinen Club.

Allerdings ist es auch kaum möglich, nicht zu tanzen. Die laute Musik lässt niemanden ruhig rumstehen, und wer einmal in den wild tanzenden Menschenpulk hineingeraten ist, wird sich nur schwer wieder aus ihm befreien können. Geboten wird alles, was tanzbar und irgendwie russisch ist: Ska-, Klezmer- und Zigeunerrhythmen gepaart mit Pop- und Elektroklängen von Musikern der Moskauer, Petersburger oder Kiewer Musikszene, und solchen, die von diesen kulturellen Ost-Zentren in alle Welt ausgewandert sind und nun aus dem Exil ihre musikalischen Botschaften verbreiten. Dazu kommt frecher Rock von Schnurow & Co., und Verka Serdjutschka ist ebenfalls mit dem ein oder anderen Sommerhit vertreten. Grundsätzlich gilt dabei: Getanzt wird, was auf den Plattenteller kommt. Denn Kaminer und Gurzhy lassen sich nicht durch Besucherwünsche in ihr Programm reinreden. Findet im Kaffee Burger mal keine „Russendisko“ statt, sorgt DJ Auflegewitsch für russische Vertretung, oder es findet ein Konzert der Band Rot-Front statt. Dabei handelt es sich um eine zusammengewürfelte Gruppe von Musikern verschiedenster Herkunft mit einem russischen und einem ungarischen Sänger.

Szenenwechsel. Im MuddClub begeht die Mannschaft des Berlinale-Dienstleistungspersonals den erfolgreichen Abschluss seines zehntägigen Dauereinsatzes. An diesem Abend wird die Petersburger Band „Markscheider Kunst“ auftreten. Nachdem man die Stufen zum Eingang hinabgestiegen ist, bereits einige russische Gesprächsfetzen mitbekommen und an der Kasse seinen Beitrag geleistet hat, findet man sich in einer höhlenartig anmutenden Räumlichkeit wieder: winzig, dunkel und niedrig wirkt der Raum. Nach dem ersten Drink hat man sich auch daran gewöhnt und ist bereit für einen heiteren Verlauf des Abends. Die sechsköpfige Band findet kaum Platz auf dem minimalistischen Podium, was sie jedoch keineswegs daran hindert, mit ihren fröhlichen, lebenslustigen afro- und reggae-angehauchten Klängen die Besucher zum Tanzen zu motivieren. Spätestens nach dem dritten Stück hat sich auch der letzte Skeptiker von seinem Sofaplatz am Rande des Raumes erhoben und kann sich nicht mehr gegen die Rhythmen wehren. Alles hüpft, tanzt und springt durcheinander. Nach zwei Stunden und drei Zugaben ist das Konzert zwar vorbei – der Abend aber noch lange nicht. DJ Plotnikowa sorgt für passende musikalische Fortsetzung. Weiter geht´s mit ausgelassener, meist alternativer russischer Tanzmusik. Irgendwann graut der Morgen und alle sind erschöpft. Für den ein oder anderen dürfte es vielleicht der erste, aber bestimmt nicht der letzte Abend mit „Russenpop“ gewesen sein.

Inzwischen findet man nämlich überall in der Stadt Partys mit russischer Musik, sei es ein deutsch-russisches Techno-Gipfeltreffen, Russian Black Music oder DJ Ingis Khan, der die Plattenteller erobert. Dazu kommen viele Gruppen, die aus fernen russischen Städten anreisen und ihre Musik live in der deutschen Hauptstadt präsentieren. Das bunte Berliner Kulturprogramm ist unverkennbar um eine Schattierung reicher geworden.

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