Im Rückblick auf ihre Zeit in Russland erinnert sich Kolumnistin Julia Siebert an so manche vermeintliche Heldentat, als sie sich gegen sinnlose Vorschriften auflehnte. Doch ein Besucher aus Russland stellt diese Heldentaten nun in Frage.

In Russland habe ich allerhand erlebt und einige Heldentaten verrichtet. Diese behalten aber nur ihren Status als echte Heldentat, wenn die Situationen so waren, wie sie sich mir dargestellt haben. Daran gab es bislang keinen Zweifel. Doch nun…

Alexej, mein ehemaliger Student aus Wladiwostok, war zu Besuch, und wir sprachen und stritten über unsere Länder, klärten uns gegenseitig auf und ließen nur sehr ungern von unseren Vorurteilen. Ich zeigte Alexej stolz meine unzähligen Schwarz-Weiß-Bilder, die ich in den U-Bahn-Stationen in Moskau aufgenommen hatte. In meiner Erinnerung sehe ich mich noch tollkühn meine große schwere Praktika auf das verbotene Motiv richten, um mit einem lauten rebellischen Klick das Foto zu schießen. Und wartete nun auf die gebührende Anerkennung, so etwas wie: „Donnerwetter, da hast du dich aber was getraut!“ wäre angemessen gewesen. Doch es kam nur ein uninteressiertes Aha. Ich half nach: „Das war doch total verboten!“ Alexej: „Was, verboten? Nee, Quatsch!“ Doch! Ganz sicher hatte mir irgendjemand gesagt, dass ich auf gar keinen Fall Fotos in der U-Bahn machen dürfe. KGB und so. Auch auf die Fotos, die mein Bruder, nicht minder rebellisch als ich, auf dem Roten Platz von den Militärs gemacht hat, obwohl (oder weil) ich ihm zugeflüstert habe, dass das total verboten sei, war ich stolz. Auch dies quittierte Alexej nur mit einem müden Schulterzucken.

Und als banales Missverständnis stempelte er meine Empörung ab, die ich nun wieder aufleben ließ, in Erinnerung an die Situation, als ich per Antrag das Rektorat um Erlaubnis bitten sollte, die Stadt Wladiwostok für ein paar Tage verlassen zu dürfen. Schließlich hätte man die Verantwortung für mich und würde sich Sorgen machen. Wie bitte?! hatte ich gemeutert, ich würde hier gar niemanden um Erlaubnis bitten, und wenn sie mich von wegen KGB und so kontrollieren wollten, sollten sie das bitteschön auch so offen und ehrlich zugeben und mir nicht mit geheuchelter Fürsorge daherkommen, pft! Und dann kam der bühnenreife Akt: Ich stand auf, zückte meinen Pass, fuchtelte damit herum und rief aus: „Ich bin eine freie EU-Bürgerin und habe ein Mehrfach-Jahres-Visum, und ich gehe damit wann, so oft, wie lange und wohin ich will, und niemand wird mich daran hindern!“ So sprach ich´s, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Stadt.

Die EU wäre stolz auf mich gewesen, mindestens einen kleinen Brüsseler Orden hätte ich verdient. Und nun eröffnet mir Alexej, dass das Antragsverfahren nicht ernst zu nehmen gewesen sei, allenfalls eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wäre das, damit mehr Leute was zu tun hätten. Wenn Alexej wirklich Recht hätte, verkümmerte im Rückblick meine glorreiche Revolution zum peinlichen Zwergenaufstand. Das wäre nicht nur jammerschade, sondern täte auch weh. So einfach kann ich das nicht hinnehmen. Im Internet lese ich nach, dass es das Fotografie-Verbot tatsächlich gegeben hat – Aha! – und auch ohne internetgestützte Beweisführung bin ich sicher, dass es nicht viele Leute wagen, dem Rektor lautstark den Erlaubnisantrag zu verweigern. Ich schlage vor, einigen wir uns auf unentschieden. Alexej kennt als waschechter Russe sein Land natürlich besser als ich. Andererseits war er damals zu jung und zu weit weg, um das selbst mitzubekommen; ich hingegen war als Zeitzeugin live vor Ort. Da das Internet vor Fotos aus der U-Bahn überquillt, kann dafür wohl keine Goldmedaille im Heldentum einheimsen, aber dass ich das Zeug zur Revolutionärin habe, konnte ich allemal unter Beweis stellen.

Julia Siebert

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