Ich dachte, ich könnte mich im Internetschachportal vor der komplizierten Kommunikation und Auseinandersetzung der realen Welt verstecken. Pustekuchen! Eben erst habe ich die wortkarge Kommunikationskultur auf dem Schachbrett angepriesen, da setzt sich Ingrid an mein Brett. Ingrid spielt anders Schach als andere Schachspieler. Ingrid feilscht und bettelt um ein Remis. Immer wieder. Auch wenn die Spielsituation alles andere fordert als ein Remis. Denn Remis spielt man eigentlich nur, wenn beide Spieler gleich stark sind und ein Ende nur durch zähes, nervtötendes Rumgehampel zu erzielen wäre.

 

Umso befremdlicher ist es, wenn jemand Remis vorschlägt, der in einer eindeutig schlechteren Position ist. So macht es Ingrid. „Nanu?“, dachte ich beim ersten Mal, als die Anfrage eingeblendet wurde, das ist sicherlich ein Scherz oder Versehen. Und habe natürlich abgelehnt. Zwei Züge später wieder. „Ihr Gegner schlägt Ihnen Remis vor.“ Immer noch: Nein. Abgelehnt. Der Remis-Terror ging weiter und gestaltete sich als neue Spielvariante: Ingrid zieht. Ich ziehe. Ingrid schlägt Remis vor. Ich lehne ab. Und so weiter und wieder von vorn. Doch bevor man irgendjemandem irgendwas vorwirft, sollte man stets die Gelegenheit der Klärung geben. Wer weiß, vielleicht handelte es sich um einen Server-Fehler. Warum ihr Remis so wichtig sei, fragte ich Ingrid per Chat. Wir hätten doch beide was davon, befand sie. Da ich im Begriff war zu gewinnen, erkannte ich meinen Vorteil darin nicht.
Außerdem kann ich Remis sowieso nicht leiden. Schach ist Sport. Spiele werden durchgezogen. Der Bessere gewinnt. Basta. Was ich so nicht sagte. Während ich nach geschmeidigeren Formulierungen suchte, warf mir Ingrid Sturheit vor. Um das Ganze abzukürzen, bekannte ich mich: Ja, ich bin stur. Ich möchte weiterspielen. Nach kurzem Zögern reckte Ingrid wieder ihre Nase. Sie bräuchte dringend Punkte. Wer Punkte braucht, muss gut spielen. Wer nicht gut spielt, hat wenig Punkte. Jedem die Punkte, die ihm gebühren. Einfache Sache. So habe ich es ihr aber nicht gesagt. So ganz einfühlsam-sozialpädagogisch fragte ich, warum ihr das so wichtig sei. Es sei ihr eben peinlich, so wenige Punkte zu haben. Ich verheimlichte Ingrid auch, dass ich es würdelos und unsportlich finde, sich Punkte, die man gar nicht verdient, zu erbetteln. Also, nee! Ich blieb ihr gegenüber aber auf meinem Sozialpädagogikkurs und ermunterte sie, zu ihrem niedrigen Punktestand zu stehen.
Das half zumindest so weit, dass wir eine kurze Weile weiterspielen konnten – ohne Remis-Anfrage. Meine Sturheit ließ Ingrid jedoch keine Ruh, welches Sternzeichen ich sei.Sternzeichenanfragen kann ich gar nicht leiden. Ich antwortete trotzdem, dass ich Jungfrau sei. Oh, ihr Papa sei auch Jungfrau gewesen. Diese Info versuchte sie zwei Züge später gegen mich auszuspielen. „Komm, wir machen Remis, in Gedenken an unsere Papas.“ Da ich auf so plumpe wehmuterzeugende Taktiken nicht hereinfalle, blieb ich jungfrauenhaft stur, tröstete sie aber zum Ausgleich damit, dass sie trotz Punktezahl gut spiele. Jetzt fand sie mich nett, beglückwünschte mich zu meinem anstehenden Sieg, und wir trafen uns nach Vollzug zu einem neuen Match.
Mein Hallo erwiderte sie nicht, und ich war höchst gespannt, ob das Thema Remis nun vom Tisch war oder nicht. Was glauben Sie? Richtig, das erste Angebot ließ nicht lange auf sich warten. Genauso wenig wie der altbekannte Vorwurf, dass ich stur sei. Dass dies kein Déja-vu-Erlebnis war, merkte ich erst, als eine neue Wendung kam: Ingrid war plötzlich klar im Vorteil. Na, Gott sei Dank, dachte ich. Das schien ihr selbst nicht aufgefallen zu sein. Sie solle doch lieber ihren wohlverdienten Sieg und damit mehr Punkte als beim Remis einheimsen, riet ich ihr. Jetzt wurde alles noch schlimmer. Wieso ich denn so human sei?! Wir sollen die Remis-Punkte teilen! Schließlich hätte ich schon zwei Mal gegen sie gewonnen und nun solle ich ihr bitteschön das Remis gönnen! Oha! Wer oder was saß da am anderen Ende der Leitung? Ich blieb kurz und knapp, den Sieg gönne ich ihr, Remis gewähre ich ihr nicht.
Dann hagelte es während des Weiterspielens, in dem sich Ingrid ihren Vorteil verspielte, schwerste Vorwürfe, dass ich durch die Verweigerung des Remis so ein todlangweiliges Spiel verschulde. Ob mir das etwa Spaß machen würde?! Nun schlug ich ihr immer wieder vor aufzugeben, wenn sie das Spiel verkürzen wolle, so wie es jeder andere täte. Ja, und wer hätte das gedacht – Ingrid ist nicht wie andere! Nein?! Ach so! Ja, sie wäre was Besonderes, bekundete ich ihr und schlug vor, dieses Spiel die letzte Begegnung unserer wunderbaren Freundschaft sein zu lassen. Das erste Mal waren wir uns auf Anhieb einig. Ja und dann passierte etwas ganz Unglaubliches. Da ich sie im Chat nicht zum Schweigen bringen konnte, spielte ich sie zumindest auf dem Brett so sehr in die Ecke, bis sie sich nicht mehr rühren konnte und ich aus Versehen aber nach allen Regeln der Schachkunst ein waschechtes Remis erzeugte. Welch kurioser Abschied, wow!

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