Es war ein Ereignis, das Hoffnungen weckte: Am 29. März 1989 wurde die Unionsgesellschaft der Sowjetdeutschen „Wiedergeburt“ gegründet. Es war nicht nur der erste landesweite Verband der deutschen Minderheit in der Sowjetunion, es war die erste Organisation in der UdSSR überhaupt, der eine nationale Zugehörigkeit zugrunde lag.

Die Gründung der Gesellschaft war ein weiterer Schritt zur erhofften Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie in der Sowjetunion und erfolgte parallel zu einer entstehenden Emigrationsbewegung: Allein zwischen 1987 bis 1991 verließen 450.000 Deutsche die Sowjetunion in Richtung „historische Heimat“. Sie wollten auch aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage die Rehabilitation nicht abwarten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion siedelten bis Mitte der 2000er Jahre weitere 1,8 Millionen Russlanddeutsche aus den postsowjetischen Staaten nach Deutschland aus.

Der Anfang vom Ende

Erste deutsche Siedler kamen bereits seit dem 14. Jahrhundert nach Russland. Seit der Machtübernahme von Katharina der Großen 1762, die selbst aus Preußen stammte, erfolgte eine massenhafte Ansiedlung deutscher Kolonisten in verschiedenen Regionen des Russischen Imperiums – vor allem in der Wolga-Region, am nördlichen Schwarzmeer, im Kaukasus und in der Nähe von St. Petersburg. Im ausgehenden 19. Jahrhundert zogen die Nachkommen der Kolonisten in den Nordkaukasus, den Süd-Ural, nach Sibirien, Kasachstan und Zentralasien weiter.

Nach der Machtübernahme der Bolschewiki spielten die Deutschen eine besondere Rolle in den Plänen von Lenin und Stalin. Die Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen erfolgte am 19. Oktober 1918. Es entstand in den heutigen russischen Oblasten Saratow und Wolgograd das erste deutschsprachige Gemeinwesen. Basierend auf der Grundlage einer radikal-sozialistischen Ideologie sollte sie den Kommunismus auch ins Deutsche Reich weitertragen.

Aus der Arbeitskommune wurde 1924 eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR), deren Hauptstadt Engels hieß und in der Deutsch die Amtssprache war. Etwa 370.000 Deutsche lebten in der ASSR und machten so etwa Zweidrittel der dortigen Bevölkerung aus. Die Autonomie führte zu einer Konsolidierung der deutschen Sprache und Kultur in der Sowjetunion.

Das Ende des wolgadeutschen Kulturerbes kam in Raten. Die Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 schürte das Misstrauen der sowjetischen Machthaber in die deutsche Bevölkerung. Es folgten erste Säuberungswellen, und im September und Oktober 1941 wurden innerhalb von sechs Wochen fast alle Deutschen deportiert und die Wolgadeutsche Republik aufgelöst. Der Historiker Edwin Warkentin fasst die Bedeutung der Wolgadeutschen Autonomie so zusammen: „Was 1918 mit verheißungsvollen Versprechungen der bolschewistischen Revolutionsführer begann, war, im Nachhinein betrachtet, bereits das Ende auf Raten eines fast 200-jährigen wolgadeutschen sowie russlanddeutschen Kulturerbes in Russland.“

Anzahl der deutschen Bevölkerung im Russischen Imperium und in der UdSSR (nach Angaben der Volkszählung in Tausend Personen)

Verstärkte Organisation der Deutschen

Nach dem Tod Stalins und im Zuge der Entstalinisierung erfolgte 1964 eine Teilrehabilitierung der Russlanddeutschen. Sie standen nicht mehr unter Generalverdacht, den sowjetischen Machthabern gegenüber illoyal zu sein. Doch die Deutschen wollten mehr: Unter Führung von Schriftstellern und überlebenden Funktionären der Wolgadeutschen ASSR forderten sie die Wiederherstellung eben dieser. Dabei betonten sie nicht ihre Treue zum Sowjetsystem. Ihnen ging es vor allem um die Gleichberechtigung mit anderen Sowjetbürgern.

Maßnahmen wurden vor allem in der Kasachischen SSR getroffen: 1964 begann das Rundfunk- und Fernsehstudio Karaganda einmal im Monat in deutscher Sprache zu senden. Ab 1966 erschien in Zelinograd die deutschsprachige Zeitung „Freundschaft“, und im in Alma-Ata ansässigen Verlag „Kasachstan“ wurde eine deutsche Abteilung eingerichtet.

Doch vor allem die Aussicht auf eine Ausreise in die Bundesrepublik oder die DDR im Rahmen von Familienzusammenführungen nutzen die Sowjetdeutschen, um Druck auszuüben. Sie organisierten eine unionsweite informelle Bürgerinitiative und führten Sitzstreiks in Moskau und Tallinn durch. 1973 gab es kleinere Demonstrationen in Karaganda, Issyk und Rudny.

Proteste gegen ein autonomes Gebiet

Um die deutsche Bevölkerung zu befrieden, schlug eine Kommission tatsächlich vor, ein deutsches Autonomes Gebiet zu gründen, dessen Zentrum Jermentau sein sollte. Das Gebiet sollte aus fünf Regionen der benachbarten Gebiete Karaganda, Kokschetaw, Pawlodar und Zelinograd bestehen. Gegen diese Pläne stemmte sich allerdings die kasachische Bevölkerung, für die das Gebiet rund um Jermentau von großer religiöser und historischer Bedeutung ist. Vor allem junge Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten im Juni 1979 gegen die Errichtung eines deutschen Autonomen Gebiets.

Die Kasachin Altynschasch Bejsembajewa erinnert sich: „Am Tag, an dem der Beschluss angenommen werden würde, hätte ich mich selbst angezündet. Ich wäre lieber gestorben als aufzugeben.“ Auch die Deutschen waren von der Idee nicht überzeugt, da sie keinen gleichwertigen Ersatz für die Wolgarepublik in dem Vorschlag sahen.

Ein anderer Punkt für das Selbstverständnis der Deutschen war die Sprache, die in den Nachkriegsjahren immer mehr an Bedeutung verlor. Gründe hierfür waren die Urbanisierung, die Entsendung von russischsprechenden Fachleuten in deutsche Siedlungen, interethnische Eheschließungen und fehlende Verwendungsmöglichkeiten im Beruf und im öffentlichen Leben. Bezeichneten 1979 noch 64,5 Prozent der Kasachstandeutschen Deutsch als Muttersprache, lag dieser Anteil zehn Jahre später nur noch bei 54,4 Prozent.

Zeit für eine kasachstandeutsche Identität

Die Gründung der „Wiedergeburt“ weckte 1989 zwar Hoffnungen, die allerdings nicht mehr erfüllt wurden. Die Gesellschaft ging im Juni 1991 im Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK) auf, der mehr als 500 Organisationen in den ehemaligen Sowjetrepubliken vereint. Seit 1997 gibt es in der Russischen Föderation zudem die „Föderale Nationale Kulturautonomie der Russlanddeutschen“, die sich für eine vollständige Rehabilitation und die Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie einsetzt. In Kasachstan heißt die Organisation der deutschen Minderheit noch immer „Wiedergeburt“. Bei der Volkszählung 2009 identifizierten sich noch etwa 180.000 Kasachstaner als Deutsche. Damals gaben 16 Prozent Deutsch als Muttersprache an.

Der Verband der Deutschen Kasachstans ist mittlerweile eine gesellschaftliche Stiftung und sitzt in Astana. 20 regionale Gesellschaften gibt es. In der ehemaligen Hauptstadt Almaty steht das „Deutsche Haus“. Früher saßen hier auch einmal deutsche Kulturmittlerorganisationen, wie zum Beispiel das Goethe-Institut. Nach wie vor gibt es zwar eine deutschsprachige Zeitung in Kasachstan, aber sowohl die deutschsprachige Fernsehsendung als auch das deutschsprachige Radioprogramm wurden eingestellt.

Wirtschaftlich werden die Kasachstandeutschen als Partner für Deutschland angesehen. Sie genießen nicht nur einen guten Ruf, sondern sind auch als Unternehmer tätig – insbesondere in der Landwirtschaft. Mit Unterstützung aus der Bundesrepublik wird versucht, die deutsche Kultur und Sprache soweit wie möglich am Leben zu erhalten. Aufgrund der Dreisprachenpolitik hat die Bedeutung des Deutschen in der Bildungslandschaft Kasachstans jedoch erheblich abgenommen, und tatsächlich sind es weniger die Kasachstandeutschen, die im Deutschunterricht die Nase vorn haben.

30 Jahre nach Gründung der „Wiedergeburt“ müssen sich die Deutschen in Kasachstan fragen, wie viel deutsche Kultur sie wirklich noch repräsentieren. Mit Dirndl und Lederhosen wird ein Klischee bedient, dass es auch in allen anderen Ländern auf der Welt gibt – ganz ohne Minderheit. Statt auf ein Deutschsein zu pochen, das auf „deutschem Blut“ und deutschen Vorfahren beruht, die vor Jahrhunderten an die Wolga und in andere Teile des Russischen Imperiums gekommen waren, wird es Zeit eine eigene kasachstandeutsche Identität zu entwickeln.

Othmara Glas

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