Auf einer Konferenz in Istanbul wurde die Debatte um den Völkermordvorwurf an den Armeniern angeregt. Die Tagung war von Protesten und Verbotsdrohungen begleitet, denn die Diskussion um den Mord an tausenden Armeniern ist noch immer ein Tabu in der türkischen Gesellschaft.

Vor zwei Wochen an einem Wochenende wurde in der Türkei ein großes Tabu gebrochen. Die Debatte um den Völkermord an den Armeniern 1915 hielt mit einer Konferenz vom 24. bis 25. September in Istanbul Einzug in die Universitäten. Die Tagung: „Die osmanischen Armenier während des Zerfalls des Imperiums: Wissenschaftliche Verantwortung und Probleme der Demokratie“ stand unter Schirmherrschaft der Universitäten Bogazici (Bosporus), Bilgi und Sabanci, die zu den drei renommiertesten privaten Universitäten des Landes zählen.

Kurz vor Beginn der Veranstaltung hatte das Verwaltungsgericht in Istanbul plötzlich entschieden, dass die Veranstaltung nicht stattfinden dürfe. Die Beschwerde war zehn Tage vorher vom Juristenverband eingereicht und damit begründet worden, die nichtwissenschaftlichen Teilnehmer seien nicht berechtigt, über dieses heikle Thema zu sprechen.

Derartige Probleme bekam die Konferenz schon Monate vorher zu spüren. Sie war ursprünglich für den 25. bis 27. Mai geplant gewesen. Allerdings verschoben die Organisatoren die Veranstaltung auf den 23. bis 25. September – wegen des öffentlichen Drucks, aber auch, weil schlichtweg der Vorbereitungszeitplan nicht eingehalten werden konnte. Doch die Verschiebung der Tagung sorgte für mediale Aufmerksamkeit, und die Bevölkerung erfuhr so überhaupt erst davon. Schon damals wurden die Veranstalter der Konferenz von einigen Parlamentariern und dem Justizminister als Landesverräter bezeichnet.

So ähnlich griff diesmal Kemal Kerincsiz, Sprecher des Juristenverbandes, die Organisatoren an und behauptete, solch eine Konferenz hätte die Absicht, die türkische Nation von hinten zu erdolchen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan kritisierte diese Entscheidung des Verwaltungsgerichts vehement. Er sagte: „Aufrichtig gesagt ist es unmöglich, dem zuzustimmen, dass in einem demokratischen Land einer Organisation gegenüber, in der Gedanken und Meinungen frei geäußert werden, solch ein Entschluss gefasst wird. Vor allem in einer Zeit, in der wir von einer `demokratischeren und freieren Türkei` sprechen. Es mag ja sein, dass einem die Meinungen nicht gefallen oder man diesen nicht zustimmt, aber man kann deren Veröffentlichung nicht auf diese Art verhindern. Außerdem ist es wohl kaum mit Demokratie, Freiheit und Zeitgeist vereinbar, eine Meinungsplattform, die bisher weder getagt hat, noch deren Inhalt bekannt ist, verhindern zu wollen.“

Außenminister Abdullah Gül äußerte sich ebenfalls zum gefällten Urteil. „Eine Nation, die sich selbst soviel Schaden zufügt, findet man selten. Es gibt keinen, der über uns steht, wenn es darum geht, uns selbst zu schaden.“ Auch Brüssel schaltete sich ein. „Wir bedauern zutiefst diesen neuen Versuch, die türkische Gesellschaft an einer offenen Diskussion über ihre Vergangenheit zu hindern“, sagte eine Sprecherin. Zudem wird wohl die Entscheidung des Istanbuler Verwaltungsgerichts in den Kommissionsbericht der EU aufgenommen, gleichzeitig aber auch die strikte Haltung Erdogans gegenüber dem Urteil.

Trotz dieser prekären Lage konnte die Tagung dennoch stattfinden, denn die Organisatoren der Konferenz hatten einen juristischen Ausweg gefunden. Das Gerichtsurteil richtete sich nur an die Universitäten Sabanci und Bogazici (Bosporus). Offenbar hatte das Gericht den dritten im Bunde übersehen: die Bilgi-Universität. Folglich wurde am 23. September entschieden, doch noch am Wochenende zu tagen. Die Konferenz, die ursprünglich für drei Tage geplant war, musste nun an zwei Tagen abgehalten werden, was zu einer sehr konzentrierten, zum Teil auch improvisierten Veranstaltung führte. Insgesamt gab es bei der Tagung mit 270 Teilnehmern 12 Sitzungen, die gleichermaßen auf beide Tage verteilt wurden.

Der Konferenz wurde vorgeworfen, zu einseitig gestaltet worden zu sein und somit die Völkermord-These zu stützen. Jedoch kamen trotzdem alle Facetten der Völkermorddebatte, ob es nun einer, ein bedingter, ein gegenseitiger oder keiner war, zum Tragen. Einen großen symbolischen Charakter trugen die Sicherheitskräfte, welche während der Tagung das Universitätsgebäude abriegelten. Wer vor wem geschützt werden sollte, blieb offen: Das türkische Volk vor den diskutierenden Wissenschaftlern oder die Teilnehmer vor eventuell extremistischen Kräften. Während im Konferenzsaal dokumentiert und diskutiert wurde, sammelten sich Menschenmassen verschiedener Parteien und Vereine, um gegen die Tagung zu protestieren. Es wurde mit Tomaten und Eiern auf das Universitätsgebäude und auch auf Teilnehmer geworfen, welche den Saal verlassen wollten. Zu den Opfern zählten auch Eren Keskin, Lokalvorsitzender des Menschenrechtsvereins (IHD) in Istanbul, sowie Erdal Inönü, der Sohn Ismet Inönüs, des zweiten türkischen Präsidenten und Weggefährten Mustafa Kemal Atatürks. Protestierende spielten nationale Gefühle des Landes hoch, wie z.B. der in Rente gegangene Divisionsgeneral Riza Kücükoglu, Sprecher des Vereins der pensionierten Offiziere der Türkei, indem er verlauten ließ, dass diese Nation Atatürk, der eines der größten Symbole der Türkei ist, bewahren und beschützen werde. Solche Behauptungen zeigen erneut, dass offenbar nicht alle Teile der türkischen Bevölkerung in der Lage oder willens sind, osmanische Geschichte unabhängig von der Geschichte der Republik zu betrachten.

Doch gibt es vielleicht eine unterschwellige Botschaft, die das Verwaltungsgericht in Istanbul als staatliche Instanz dieser Konferenz mitteilen wollte? Ist es vielleicht das Ziel, die Teilnehmer indirekt dazu zu zwingen, ihre Tagung im Ausland, fern von der türkischen Gesellschaft abzuhalten, wo sie wenig davon mitbekommen würde, z.B. in der Schweiz oder in Deutschland, um anschließend behaupten zu können: Die „anti-türkische Lobby“ im Ausland hatte mal wieder eine Tagung? Oder der Konferenz sogar vorwerfen zu können, zu lügen, da es ihr an Mut fehle, nicht in der Türkei zu tagen? Beides konnte nur knapp nicht erreicht werden. Damit gab es einen Erfolg wissenschaftlicher Unabhängigkeit in der Türkei und gleichzeitig einen kleinen „Punktsieg“ für das Gericht, die Konferenz auf immerhin einen Tag gekürzt zu haben.

Der breiten Öffentlichkeit werden die Themen, die bei der Tagung besprochen wurden, in einer dokumentierten Veröffentlichung vorgestellt. Kein Thema scheint zurzeit die türkische Zivilgesellschaft so zu spalten, wie die Armenierdebatte. EU-Beitritt hin, EU-Beitritt her.

07/10/05

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